© Roland Baege
Im Spotlight August 2025 boten mit Prof Dr. Stefan Böschen und Prof. Dr. Matthias Weber zwei renommierte Innovationsforscher Einblicke in die Schnittstellen Sozialer und Technologischer Innovationsprozesse. Dabei wurde die Relevanz sozio-technischer Systemansätze beleuchtet. Sie eignen sich in besonderer Weise dazu,Wechselwirkungen von Sozialen und Technologischen Innovationen zu erfassen und auf wünschenswerte Zukunftsziele auszurichten — etwa organisationale oder gesellschaftliche Resilienz oder nachhaltige Entwicklungen.
Dieses Spotlight schließt an diese Perspektiven an und präsentiert ein hochaktuelles Beispiel für eine jener komplexen gesellschaftlichen Herausforderungen, die nur im Wechselspiel Technologischer und Sozialer Innovationen bewältigt werden können: nachhaltige Mobilität. Erneut kommen zwei Expert:innen zu Wort. Prof. Dr. Wibke Michalk von der Technischen Hochschule Rosenheim sowie Seniorprof. Dr. Johannes Weyer von der Technischen Universität Dortmund stellen Ihre Herangehensweise an und Sichtweise auf nachhaltige Mobilität dar. Dazu beschreiben sie jeweils ein Beispiel aus der Forschung und Arbeit an ihrer Hochschule und erläutern, welche Stellschrauben sie sehen, um nachhaltige Mobilität im Hochschulkontext für und mit der Gesellschaft zu gestalten und zu fördern. Mit zwei sich ergänzenden Formaten, einem Interview mit Wibke Michalk sowie einem Gastbeitrag von Johannes Weyer, bietet dieses Spotlight praktische Einblicke in die Arbeit mit und entlang gesellschaftlicher Herausforderungen an Hochschulen. Das Interview mit Wibke Michalk wurde vom Team Wissenschaft der SIGU-Plattform geführt.
Transformation sozio-technischer Systeme: Die Dominanz des Individualverkehrs nachhaltig verändern – Interview mit Wibke Michalk

Prof. Dr. Wibke Michalk
Professorin für Digitale Technologien und Transformation
Technische Hochschule Rosenheim | Campus Chiemgau
Foto: © Christoph Leonhardt
Das Ziel von CaMoRoT ist es, diesen Modal Split nachhaltig zu verändern. Hierfür werden in mehreren Schritten Maßnahmen eingeführt, die einerseits die Fahrradinfrastruktur verbessern, andererseits neue Mobilitätsangebote schaffen, wie Bike-Sharing-Systeme oder eine Mitfahrplattform für Studierende und Beschäftigte. Ergänzt wird dies durch eine digitale Plattform, die als zentrale Informations- und Zugangsoberfläche dient und die verschiedenen Angebote nutzerfreundlich bündelt. Besonders wichtig ist dabei, dass die Angebote bedürfnisgerecht für unterschiedliche Zielgruppen gestaltet werden – von Studierenden ohne eigenes Auto über Mitarbeitende mit längeren Pendelwegen bis hin zu Personen ohne Fahrerlaubnis.
Die Forschung zu nachhaltiger Mobilität ist in vielerlei Hinsicht herausfordernd, vor allem, weil sie an der Schnittstelle von Technik, Gesellschaft und individuellem Verhalten stattfindet. Einer der zentralen Punkte ist, dass Verhaltensänderungen bei Menschen Zeit brauchen. Mobilität ist stark in den Alltag integriert und eng mit Gewohnheiten, Routinen und persönlichen Bedürfnissen verknüpft. Selbst wenn objektiv bessere Alternativen vorhanden sind – beispielsweise ein attraktives Bike-Sharing-Angebot oder eine komfortable Mitfahrplattform – bedeutet das nicht automatisch, dass diese sofort angenommen werden. Viele Menschen müssen dabei begleitet werden, neue Wege auszuprobieren. Dazu braucht es Vertrauen, Begleitung und manchmal eben auch Anreize.
Ein weiterer Aspekt ist das Tempo des technologischen Fortschritts. In manchen Bereichen, wie beispielsweise bei der Entwicklung von KI-gestützten Anwendungen oder bei digitalen Plattformen, schreiten Innovationen sehr schnell voran. Für die Forschung bedeutet das, dass es für Anwendungen, die während der Antragsphase noch neu waren, während ihrer Erprobung schon wieder neue Versionen gibt. Das muss bereits bei der Gestaltung eines Projekts berücksichtigt werden. Gleichzeitig erfordert die Akzeptanz neuer Technologien Vertrauen und Zeit. Hier prallen Geschwindigkeit und Gewöhnung aufeinander.
Besonders im Bereich der ländlichen Mobilität ergibt sich eine zusätzliche Herausforderung: Angebote, die im dichten, urbanen Raum funktionieren, erfahren im ländlichen Raum keine ausreichende Auslastung. Hier gilt es, alternative Wege zu beschreiten und zu erproben.
Diese Kombination – die Langfristigkeit von Verhaltensänderungen, die Schnelllebigkeit technischer Entwicklungen und die Eigenheiten des ländlichen Raums – macht die Forschung in diesem Bereich besonders komplex. Gleichzeitig ist sie aber genau deshalb so spannend: Sie erfordert von uns, interdisziplinär zu denken, neue Ansätze zu erproben und den Menschen mit seinen Bedürfnissen stets ins Zentrum zu stellen.

Ein wesentlicher Hebel ist das Bewusstsein der Menschen für die Umweltwirkung ihres Mobilitätsverhaltens. Wenn wir die Wirkung des Wechsels sichtbar machen, etwa durch leicht verständliche CO₂-Vergleiche oder durch Feedback-Mechanismen in Apps, kann dies ein erster Anstoß sein, das eigene Verhalten zu reflektieren. Ohne ein solches Bewusstsein ist es schwer, eine Veränderung nachhaltig zu verankern.
Genauso wichtig ist, dass es in der Diskussion nicht darum gehen darf, das Auto zu verbieten oder Menschen zu bevormunden. Vielmehr sollten wir attraktive Alternativen sichtbar machen und die Vorteile herausstellen, die andere Mobilitätsformen mit sich bringen. Wer beispielsweise mit dem öffentlichen Verkehr unterwegs ist, kann die Fahrtzeit zum Arbeiten, Lesen oder Entspannen nutzen – das ist ein klarer Mehrwert gegenüber der oft stressigen Autofahrt im Stau. Solche positiven Narrative sind entscheidend, um Menschen für den Umstieg zu gewinnen.
Darüber hinaus sehe ich Kooperation als eine zentrale Stellschraube. Nachhaltige Mobilität im Hochschulkontext kann nur gelingen, wenn verschiedene Akteure an einem Strang ziehen: die Hochschule selbst mit ihren Studierenden und Beschäftigten, die Kommunen als Planungs- und Genehmigungsinstanz, die Verkehrsunternehmen mit ihrem Know-how und ihrer Infrastruktur, aber auch die Anwohnerinnen und Anwohner, die von Veränderungen unmittelbar betroffen sind. Nur im Zusammenspiel lassen sich tragfähige Lösungen entwickeln, die sowohl ökologisch wirksam als auch sozial akzeptiert sind.
Wenn es gelingt, Bewusstsein zu schaffen, Alternativen positiv zu vermitteln und Kooperationen zu stärken, können Hochschulen nicht nur ihre eigene Mobilität nachhaltiger gestalten, sondern zugleich als Reallabore wirken – also als Orte, an denen neue Lösungen erprobt werden, die dann auch für die Gesellschaft insgesamt wertvolle Impulse geben.
Nachhaltige Mobilität ist im Studiengang E-Commerce, in dem ich unterrichte, zugegebenermaßen nicht das Erste, woran man denkt. Allerdings spielen mir hier zwei Faktoren in die Karten: Zum einen lehren wir in Traunstein an einem Standort, der per se sehr von motorisiertem Individualverkehr geprägt ist. Gleichzeitig sind unsere Studierenden stark auf den öffentlichen Verkehr angewiesen. Zum anderen ist – wie oben schon erwähnt – Mobilität ein Thema, das einfach jeden betrifft. So kommt es zwangsläufig immer wieder zu Diskussionen über Mobilität, egal, ob es um die pünktliche Ankunft zu Lehrveranstaltungen oder um das Erreichen von Exkursionszielen geht. So lassen sich dann auch Anwendungsbeispiele aus der Mobilität in verschiedenen Lehrveranstaltungen erklären. So wird in Data Management and Analytics die Auslastung und Nutzung eines Bike-Sharing-Systems ausgewertet und gleichzeitig die Interpretation der Auswertungsergebnisse geübt.
Transformation sozio-technischer Systeme: Das Beispiel des On-Demand-Verkehrs mit autonomen Fahrzeugen – ein Gastbeitrag von Johannes Weyer
Prof. Dr. Johannes Weyer
Seniorprofessor Nachhaltige Mobilität
Technische Universität Dortmund | Sozialforschungsstelle
Foto: © sfs

Neue Technik entsteht überall und immer wieder, aber nicht alles, was technisch möglich ist, setzt sich durch, wird von den Kund:innen akzeptiert und erweist sich als ökonomisch profitabel bzw. ökologisch tragfähig. Ingenieure sind gut beraten, wenn sie die Perspektive potenzieller Nutzer:innen frühzeitig in ihre Planungen einbeziehen und so vermeiden, neue Technik am Bedarf der Menschen vorbeizuentwickeln. Hier kommen die Sozialwissenschaften ins Spiel, die ein Know-how einbringen, das für die Entwicklung innovativer sozio-technischer Systeme von großem Wert sein kann.
Denn sie verfügen über ein Wissen, das die Ingenieure nicht – bzw. nicht in systematischer Weise – haben: das Wissen über das Alltagshandeln der Menschen, also darüber, wie die Menschen Entscheidungen treffen, die auf den ersten Blick nicht immer vernünftig erscheinen mögen, wenn sie beispielsweise mit dem Auto zum Bäcker um die Ecke fahren. Derartige Praktiken gehören auf den Prüfstand, zumindest wenn man den Klimawandel bekämpfen will. Die Mobilitätssysteme der Zukunft müssen ressourcenschonend und klimafreundlich sein. Aber werden die Menschen mitspielen? Werden sie bereit sein, ihre alltäglichen Praktiken zu überdenken und innovative Mobilitätsangebote zu nutzen, die es perspektivisch überflüssig machen könnten, einen eigenen Pkw zu besitzen?
Das Projekt NeMo.bil
Was heute noch wie Zukunftsmusik klingen mag, wird im Projekt NeMo.bil (Paderborn) und ähnlichen Projekten wie KIRA (Südhessen) oder ALIKE (Hamburg) derzeit erforscht, entwickelt und erprobt: On-Demand-Verkehr. Dieser entwickelt sich langsam zur vierten Säule des Verkehrs neben motorisiertem Individualverkehr (Pkw), öffentlichem Verkehr (Bus und Bahn) und aktiver Mobilität (mit dem Rad oder zu Fuß). RoboTaxis, die nur bei Bedarf verkehren, ermöglichen ein individuelles und flexibles Reisen von Tür zu Tür und füllen die Lücken, die im Verkehrsangebot vor allem in ländlichen und suburbanen Räumen bestehen.

Der besondere Clou von NeMo.bil ist das Konvoikonzept: Ein Schwarm von NeMo.Cabs bedient vorrangig die erste und letzte Meile. Für längere Strecken schließen sich die Cabs zu Konvois zusammen, die vom NeMo.Pro (ein größeres, automatisiertes Zugfahrzeug) nicht nur gezogen, sondern während der Fahrt auch mit Energie versorgt werden. Am Ziel angekommen, schwärmen sie dann wieder aus und ermöglichen so ein umsteigefreies Reisen – ähnlich wie im Pkw, der damit tendenziell überflüssig werden könnte. Im Gegensatz zu anderen Projekten, in denen RoboTaxis vom Format eines Mittelklasse-Pkws zum Einsatz kommen, sind die NeMo.Cabs daher leichtgewichtige Fahrzeuge der Fahrzeugklasse L7e, die ressourcenschonend hergestellt und betrieben werden können.
Modellierung von Mobilitätsverhalten
Die Frage bleibt: Werden die Menschen diese neuen Angebote nutzen? Man kann sie nach ihrer Verhaltensintention fragen, aber wir wissen, dass zwischen Einstellung (pro Umwelt) und Verhalten (ab und zu mal nach Malle) oftmals Welten liegen. Deshalb verwenden wir an der TU Dortmund ein soziologisches Modell namens xMooBe, mit dem wir das Verhalten der Menschen modellieren (Weyer/Hoffmann 2025). Dabei gehen wir von der Prämisse aus, dass Menschen bei der Wahl zwischen zwei Alternativen in der Regel diejenige wählen, die sie am meisten zufriedenstellt. Je nach Typ kann diese Entscheidung unterschiedlich ausfallen: Einige fahren Rad, andere Auto. Mit diesem Modell können wir das reale Verhalten einigermaßen präzise vorhersagen; und wir können die Faktoren benennen, die die unterschiedlichen Handlungswahlen prägen: Dies sind zum einen grundlegende Einstellungen (wie wichtig sind mir Umwelt, Komfort, Kosten etc.), zum anderen aber auch Kontextfaktoren wie das (Nicht-)Vorhandensein von Radwegen, Kinder im Haushalt, der (Nicht-)Besitz eines Autos usw. usf.
Dieses Modell eignet sich zudem, Was-wäre-wenn-Fragen zu beantworten. Wir können z. B. untersuchen, ob bestimmte Gruppen von Menschen das Rad mehr nutzen würden, wenn es mehr und sichere Radwege gäbe. Und wir können bereits vor Einführung autonomer On-Demand-Verkehre abschätzen, ob dieses Angebot angenommen würde. Erste Auswertungen weisen darauf hin, dass ca. 15 Prozent dazu bereit wären, und zwar nicht nur Radfahrer:innen, sondern auch Autofahrer:innen.
Dazu führen wir Gedankenexperimente, aber auch Simulationsexperimente mit dem Verkehrssimulator MATSim durch, in dem wir das Mobilitätsverhalten von zehntausenden von Softwareagenten analysieren und testen, ob und wie sie auf Veränderungen wie die Einführung von On-Demand-Angeboten reagieren (Weyer et al. 2025).
Interdisziplinäre Kooperation
Die von uns generierten Daten über das Mobilitätsverhalten der Menschen und die Akzeptanz autonomer Systeme bilden einen Input für die Arbeit der Ingenieure, die die technischen Komponenten von NeMo.bil entwickeln. Damit soziale und technische Innovationen zusammenfließen und in der Entwicklung zukunftsfähiger sozio-technischer Systeme münden, bedarf es jedoch einer gemeinsamen Sprache von Sozial- und Ingenieurwissenschaften bzw. zumindest einer geeigneten Form der Übersetzung des auf beiden Seiten bestehenden Wissen in die Wissensbestände des jeweils anderen Partners.
In etlichen Projekten, die sich mit der nachhaltigen Transformation des Energie- bzw. des Verkehrssystems befasst haben, hat es sich als hilfreich erwiesen, gemeinsam Modelle des zu untersuchenden Gegenstands zu entwickeln und in dieses eigene Daten einzuspeisen bzw. die Daten zu nutzen, die von anderen Projektpartnern eingespeist wurden. Auf diese Weise werden die Komplexität sozio-technischer Systeme, vor allem aber die Wechselwirkung sozialer und technischer Komponenten besser greifbar. Und das Verständnis der Herausforderungen und Hürden, aber auch der Chancen sozio-technischer Transformationen wächst auf beiden Seiten.
Einzige Voraussetzung: Auch die Sozialwissenschaften müssen in der Lage (und bereit) sein, in Modellen zu denken und soziale Systeme modellhaft abzubilden, um anschlussfähig für ihre Partner zu sein.
Literatur
Weyer, Johannes/Fabian Adelt/Marlon Philipp, 2025: Agentenbasierte Modellierung und Simulation komplexer Systeme. Der Simulator SimCo als Tool zur Analyse der Mobilität im Ruhrgebiet. In: Johannes Weyer (Hg.), Nachhaltig mobil. Wie das Ruhrgebiet die Verkehrswende schaffen kann. Wiesbaden: Springer, 305-329, https://doi.org/10.1007/978-3-658-45236-0_11.
Weyer, Johannes/Sebastian Hoffmann, 2025: Bridging the Attitude-Behavior Gap. An explanation of travel mode choice using analytical sociology. In: PLOS One (accepted).