Soziale Innovationen: Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen?
Sozial-innovative Akteur:innen reden nicht nur über gesellschaftspolitische Probleme. Sie packen an und finden Lösungen für die unterschiedlichsten Herausforderungen unserer Zeit. Sei es die Klimakrise, der demographische Wandel, Chancengleichheit oder nachhaltige Nahrungsmittelerzeugung: Soziale Innovationen (SI) versuchen gesellschaftliche Antworten neu zu denken und an einer besseren Zukunft mitzuarbeiten.
Dabei gehen sie oft aus Bottom-Up-Initiativen hervor. So greifen Gemeinwohlorientierte Unternehmen, zivilgesellschaftliche Initiativen, Vereine, gemeinnützige Organisationen oder Sozialunternehmen gesellschaftliche Bedarfe auf und entwickeln Lösungsansätze für gesellschaftliche Probleme. Aber auch die öffentliche Verwaltung, die Politik, Unternehmen oder Hochschulen können Soziale Innovationen hervorbringen.
Wissenschaftliche Einrichtungen erforschen beispielsweise die Hintergründe sozialer Innovation, ermöglichen den Transfer von neuen Lösungen und lehren zu den Erkenntnissen aus Forschung und Praxis. Öffentliche Verwaltung gestaltet den Rahmen, lanciert Förderlinien, entwickelt innovative neue Ansätze zur Bürger:innenbeteiligung usw.
Ideen und Lösungen entstehen also oft dort, wo die Probleme sind. Nicht immer, aber häufig sind Sozialinnovator:innen hierbei selbst Betroffene. Sie bringen damit eine unschätzbare persönliche Motivation, Hartnäckigkeit, aber auch Wissen mit, um die bestehende Situation für sie selbst und ihre Zielgruppe zu verbessern. Sie geben Impulse und bringen neue oder veränderte Herangehensweisen hervor, zum Beispiel wie sich Menschen fortbewegen (Car-Sharing), weniger Plastikmüll verursachen (Unverpackt-Läden) oder in der Stadt Grünflächen nutzen (Urban Gardening).
Wenn ein neuer Lösungsansatz dann zum Beispiel in Form einer marktvermittelten oder gemeinnützigen Dienstleistung, eines Produkts oder einer neuen Herangehensweise überzeugt, gesellschaftlich angenommen wird und sich verbreitet, handelt es sich um eine Soziale Innovation. Bekannt sind vor allem Social Entrepreneurs (also sozial-innovative Unternehmer:innen) dafür, dass sie sozial-innovative Dienstleitungen oder Produkte hervorbringen.
Doch Soziale Innovationen können in allen gesellschaftlichen Bereichen entstehen, wie zum Beispiel aus der Zivilgesellschaft, aus sozialen Bewegungen, durch Beschäftigte in gemeinnützigen Organisationen, in Unternehmen, Politik, Kommunen, in der öffentlichen Verwaltung oder aus Hochschulen heraus. Dabei handelt es sich bei Sozialen Innovationen nicht um ein neues Konzept.
Bereits in der Vergangenheit haben Soziale Innovationen weltweit zu nachhaltigen und positiven gesellschaftlichen Veränderungen beigetragen, von denen wir auch heute noch profitieren – die Entstehung von Kindergärten und die Einführung der Krankenversicherung sind herausragende Beispiele aus dem 19. Jahrhundert. Die Bezeichnung „Soziale Innovation“ wird allerdings erst seit relativ kurzer Zeit wieder verwendet und auf neue innovative Ansätze bezogen.
Worin unterscheiden sich Soziale und technologische Innovationen?
Soziale Innovationen sind im Kern veränderte oder neukonfigurierte Herangehensweisen (soziale Praktiken) und konzentrieren sich, wie technologische Innovationen, auf neue Ansätze für aktuelle und künftige Problemstellungen*. Der Unterschied liegt allerdings in der Motivation und dass es sich um der neue Herangehensweisen handelt. Sozialinnovator:innen suchen nach wirklichen Lösungen für ein gesellschaftliches Problem. Sie verfolgen dabei oftmals zudem einen systemischen Ansatz – sie fokussieren sich also nicht nur auf die sichtbaren Versorgungs- und Angebotslücken. Vielmehr versuchen sie zunehmend auch den unterliegenden Grund eines Problems mit ihren Lösungen und ihrem Tun zu adressieren. Laut Deutscher Social Entrepreneurship Monitor setzen sich demnach ganze 79,4% der dort befragten Sozialunternehmen für strukturelle Verbesserungen in relevanten Themenbereichen ein.
Darin liegt ein zentraler Unterschied zwischen Sozialen und technologische Innovationen. Denn obwohl technologische Innovationen bei der Bewältigung von großen gesellschaftlichen Herausforderungen natürlich wichtig sind (wie bei der Realisierung der Energiewende), zielen technisch-innovative Unternehmen meistens in erster Linie darauf ab, Gewinne zu erwirtschaften. Der soziale Mehrwert steht für technische Innovationen darum häufig nicht im Fokus. Sie sind daher für die Lösung vielseitiger gesellschaftlichen Probleme nur eingeschränkt geeignet – schließlich sind viele unserer heutigen Herausforderungen auch erst durch technologische Neuerungen entstanden. So haben effizientere Produktionsprozesse beispielsweise zu günstigeren Produkten und damit einem vielfach höheren Konsum und Ressourcenverbrauch geführt (zum Beispiel in Bezug auf Mobilität oder Fleischkonsum). Diesen negativen Effekt von technologischer Innovation nennt man „Rebound-Effekt“.
Sozialinnovator:innen stellen hingegen soziale, beziehungsweise ökologische Ziele ins Zentrum ihres Tuns. Wirtschaftlicher Erfolg dient hauptsächlich dazu, die Mittel und Möglichkeiten zu haben, die gesetzten Ziele zu erfüllen. Gleichzeitig können Soziale Innovationen auch auf einer technologischen Neuerung oder Anwendung basieren. Zum Beispiel kann eine technikbasierte Innovation beim Umgang mit neurologischen Erkrankungen helfen. Dies zeigt das Duisburger Unternehmen ichó. Es hat einen Therapieball entwickelt, der Menschen mit Behinderung oder einer Demenzerkrankung dabei unterstützen kann, ihre Kognition und Motorik zu trainieren oder ihnen zur Entspannung und emotionalen Aktivierung verhelfen kann.
*Wenn wir hier Soziale Innovationen den technologischen Innovationen gegenüberstellen, geschieht dies auch aus sprachlichen Vereinfachungsgründen. Dabei ist uns bewusst, dass es sich hierbei jeweils um im Schwerpunkt Soziale bzw. technologische Innovationen handelt und die Übergänge verschiedener Innovationstypen fließend sein können. Entwicklungen bei Sozialen und technologische Innovationen können einander bedingen oder beeinflussen. Auch können technologische Innovationen natürlich ein Kern von Sozialen Innovationen sein (Vgl. Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen (2023), S.11).
Ein noch einflussreicheres Beispiel für eine auf Technik basierte Soziale Innovation ist die Wissensplattform Wikipedia. Ihr Ziel, das Wissen der Welt für alle Menschen zugänglich zu machen, verfolgt die Plattform durch ihren Crowdsourcing-Ansatz sehr erfolgreich. Weltweit greifen im Durchschnitt ungefähr 5 Milliarden Menschen pro Monat auf die Plattform zu. Allein seit ihrem Start im März 2002 sind fast 2.8 Millionen Artikel in deutscher Sprache entstanden (Stand April 2023). Ein System aus ehrenamtlichen Redakteur:innen trägt zur Informationsvielfalt und Qualitätssicherung der Beiträge bei. Dabei ist es essentiell, Wikipedia als gemeinnütziges Sozialunternehmen zu führen, obwohl die Option bestand, aus der Website Profit zu schlagen. Der gemeinnützige Charakter der Seite stellt sicher, dass so viele ehrenamtlich engagierte Menschen die Vision von Wikipedia teilen und in so großer Zahl engagiert bleiben. Die Soziale Innovation hinter Wikipedia ist also nicht die Internetseite. Es ist der neue Ansatz der freien und kollaborativen Bereitstellung von Wissen, der sich inzwischen weltweit etabliert hat.
Was bewirken Soziale Innovationen?
Soziale Innovationen können neben einem gesellschaftlichen Mehrwert auch finanzielle Einsparpotenziale mit sich bringen – also auch einen ökonomischen Mehrwert. Dies zeigen Beispiele aus dem Gesundheitswesen und dem Bildungsbereich. So rechneten McKinsey und Ashoka (2019) vor, dass die damals über 1.700 Sozialunternehmen in Deutschland einen wirtschaftlichen Nutzen von mehreren Milliarden Euro entfalten können. Das Modell der innovativen und individuell gestaltbaren Lernplattform für Schüler:innen des Sozialunternehmens Serlo Education hätte demnach allein schon ein finanzielles Potenzial von 270 Millionen je Schuljahrgang. Die internationale Organisation zur Förderung von besonders innovativen und wirksamen Social Entrepreneurs „Ashoka“ unterstützt bereits 70 solcher hochwirksamer Social Entrepreneurs in Deutschland.
Dieses große Potenzial geht auch aus dem Deutschen Social Entrepreneurship Monitor des SEND e.V. hervor (siehe oben), der sich auf bundesweit 359 Sozialunternehmen bezieht. Viele von ihnen wurden mit renommierten Business- und Nachhaltigkeitspreisen (wie dem Deutschen Gründerpreis) ausgezeichnet.
Allein für Brandenburg fand eine 2020 veröffentlichte Studie des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung (IRS) und Social Impact rund 140 marktorientierte Sozialunternehmen, insbesondere auch aus dem ländlichen Raum. Dort fungieren Sozialunternehmen als wichtige Impulsgeber, zum Beispiel im Bereich der Digitalisierung, Bildung, des neuen Arbeitens, bei der (Um-)Nutzung des vorhandenen Raumbestands und in der ökologischen Landwirtschaft. Hinzu kommen innovative Sozialbetriebe, die in den Bereichen Inklusion und Integration stärker als in der Vergangenheit auch am freien Markt agieren.
In Offenen Sozialen Innovationsprozessen können auch Akteur:innen aus verschiedenen Sektoren und Ebenen eingebunden sein. Dabei erarbeiten sie in einem missionsorientierten Prozess gemeinsam und aus verschiedenen Blickwinkeln sowie co-kreativ Lösungsansätze zu einer bestimmten gesellschaftlichen Problemlage. Auf diese Weise können zentrale Herausforderungen in einem Stadtteil, einer Kommune oder Region angegangen und Soziale Innovationen entwickelt werden. Diesen Prozess nennt man Open Social Innovation. Er wurde besonders bekannt durch die Initiativen #WirVsVirus und das darauffolgende UpdateDeutschland, in denen in Folge der Corona-Pandemie aus zahlreichen Bereichen Lösungen für gesellschaftliche Probleme gesucht und weiterentwickelt wurden.
Soziale Innovationen in der Politik: Schrittweise zu besseren Rahmen­bedingungen
Das große Potenzial von Sozialen Innovationen und Gemeinwohlorientierten Unternehmen hat seit einigen Jahren auch die Politik erkannt. Diese Einsicht wurde angesichts der Herausforderungen der Corona-Pandemie weiter verstärkt und die Forderung nach einer gezielten Förderung von Sozialen Innovationen sowie die Nutzung ihrer Potenziale in den aktuellen Koalitionsvertrag der Bundesregierung mitaufgenommen.
Soziale Innovationen sind mittlerweile fester Bestandteil der Zukunftsstrategie „Forschung und Innovation“ der Bundesregierung. Seit 2021 gibt es ein „Ressortkonzept zu Sozialen Innovationen“ des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, das die Förderung von Sozialen Innovationen als Querschnittsaufgabe aller Bundesministerien vorsieht. Im September 2023 veröffentlichte die Bundesregierung die Nationale Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen (SIGU), die eine Aufwertung Sozialer Innovationen gegenüber Technischer Innovationen sowie eine umfangreiche Förderung von Sozialen Innovationen vorsieht – die Plattform für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen wurde dank der SIGU ins Leben gerufen. Darüber hinaus haben zahlreiche Bundesländer – angeführt von Niedersachsen und Brandenburg – Soziale Innovationen in ihre Programme zum Europäischen Sozialfonds für die nächste Förderperiode der Europäischen Union aufgenommen. Ziel ist es, das Potenzial Sozialer Innovationen zur Bewältigung aktueller gesellschaftlicher Problemlagen sowie für die Umsetzung der 17 Ziele für eine nachhaltige Entwicklung der Vereinten Nationen zu nutzen, um die soziale und ökologische Transformation in Deutschland voranzutreiben. Die erfolgreiche Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele entscheidet über unsere derzeitigen und zukünftigen Lebensverhältnisse.