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Spotlight Citizen Science und Soziale Innovationen

20. Dezember 2024

Foto © Ketut Subiyanto, Pexels

Bereits seit Langem werden Bürger:innen in Forschungsvorhaben eingebunden, beispielsweise in der Aktionsforschung. Dieser und andere Ansätze für partizipative Forschung zeichnen sich dadurch aus, dass sich Nichtwissenschaftler:innen aktiv beteiligen können. Dabei werden sie nicht nur im Rahmen von Befragungen oder einzelnen Konsultationen einbezogen, sondern auch darüber hinaus beteiligt. Weltweit hat sich für Ansätze, in denen Bürger:innen an Forschung teilhaben, der Begriff der Citizen Science etabliert. Dieses Spotlight beleuchtet, inwiefern die Citizen Science und Soziale Innovation miteinander verbunden sind.

In Citizen-Science-Projekten werden Bürger:innen in ganz unterschiedlicher Weise an Forschung beteiligt. Zum Beispiel unterstützen sie bei der Datensammlung, bestimmen Forschungsgegenstände mit oder werten Forschungsergebnisse aus und diskutieren diese. Um die langjährige Tradition von Citizen Science zu betonen, wird oft der Christmas Bird Count, eine jährliche Vogelzählung, bemüht, die bereits im Jahr 1900 das erste Mal mit Unterstützung von Bürger:innen in den USA und Kanada durchgeführt worden ist. Auch in Deutschland hat der Ansatz der Citizen Science in den letzten Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) widmete ihm beispielsweise gleich zwei eigene Förderrichtlinien in den Jahren 2016 und 2019. Zudem wurden mit dem „Grünbuch Citizen Science Strategie 2020 für Deutschland“ und dem „Weißbuch Citizen Science Strategie 2030 für Deutschland“ in den Jahren 2016 und 2022 zentrale Orientierungspunkte für die strategische Diskussion und die Praxis von Citizen Science veröffentlicht. Sichtbar werden die Erfolge bei der Verbreitung des Citizen-Science-Ansatzes in Deutschland auf der Plattform mit:forschen!, die das BMBF seit 2013 fördert. Das Team Wissenschaft der SIGU-Plattform hat mit den Projektleitenden Wiebke Brink und Moritz Müller gesprochen und hierbei auch Anknüpfungspunkte zu Sozialer Innovation in den Blick genommen. Einige Schnittmengen liegen auf der Hand, so werden Citizen-Science-Projekte regelmäßig auf den Weg gebracht, um Lösungen für gesellschaftliche Herausforderungen partizipativ zu beforschen oder zu erproben. Forschungspraktiken der Citizen Science können zudem selbst als Soziale Innovation verstanden und analysiert werden. 

„[…] Citizen Science kann als Soziale Innovation betrachtet werden, die konventionelle Wissenschaft erweitert, indem sie Mitglieder der Öffentlichkeit als eine breitere soziale Kategorie einbezieht.“

(Kullenberg 2023: S. 366; eig. Übersetzung)

Wie verstehen Sie Ihre Rolle als Plattform für Citizen Science in Deutschland und mit welchen Zielen betreiben Sie diese Plattform?

Wiebke Brink: „Mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen! (ehemals Bürger schaffen Wissen) ist die zentrale Plattform für Citizen Science in Deutschland. Seit 2014 arbeiten wir – das Museum für Naturkunde Berlin und Wissenschaft im Dialog – in dem Projekt eng zusammen. Unsere Arbeit wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung und Forschung. Unser Ziel ist es, über Citizen Science zu informieren, Projekte zum Mitforschen zu präsentieren, Akteure aus der Praxis zu vernetzen und ganz konkret bei der Projektplanung und -umsetzung zu unterstützen sowie den fachlichen Austausch zu fördern. Mit all diesen Angeboten und Aktivitäten wollen wir dazu beitragen, dass Citizen Science sich als partizipativer Forschungsansatz weiter etabliert und weiterentwickelt. Dahinter steht als Grundidee, dass es heute neue und andere Formen der Zusammenarbeit in der Forschung benötigt, um gesellschaftliche Fragestellungen zu bearbeiten, aber auch Grundlagenforschung zu betreiben. Kooperatives und partizipatives Denken und Handeln in der Forschung sind zwei Schlüsselbegriffe, die wir mit unseren Angeboten stärken wollen. Dabei durchlaufen wir selbst einen kontinuierlichen Entwicklungsprozess und passen unsere Angebote immer wieder bedarfsorientiert an, um den Anforderungen einer wachsenden Community gerecht zu werden. So sind wir zum Beispiel als reine Informationsplattform gestartet und haben im Laufe der folgenden Jahre unsere Aktivitäten ausgebaut: mit Vernetzungs- und Trainingsangeboten, mit der Etablierung und Unterstützung von Arbeitsgruppen und mit verschiedenen Veranstaltungen.“ 

Soziale Innovationen gewinnen an deutschen Hochschulen an Bedeutung in Forschung, Lehre und dritter Mission. Dabei spielen partizipative Formate, wie Citizen Science, eine wichtige Rolle für das Hervorbringen sozialinnovativer Lösungen. Welche Bedeutung haben Soziale Innovationen in der deutschen Citizen-Science-Community aus Ihrer Sicht?

Wiebke Brink: „Aus unserer Sicht gibt es vor allem einen großen gemeinsamen Kern, nämlich das Hin- und Zuhören und die Zusammenarbeit über Hierarchien und Status hinweg. Nach meinem Verständnis entstehen Soziale Innovationen ja häufig aus einer Idee oder vielleicht auch Not heraus, als Bottom-Up-Initiative oder Start-Up. Hier offene Räume zu schaffen, zum Beispiel makerlabs oder Ähnliches und gemeinsam an einer Weiterentwicklung zu arbeiten, um die Ideen und Lösungen zu pilotieren, das ist eine wichtige Verbindung zwischen Hochschule und Region, zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. Citizen Science folgt einem ähnlichen Prinzip. Es geht um eine grundsätzliche Offenheit für Perspektiven, Erfahrungen und Wissensstände außerhalb der institutionalisierten Wissenschaft, denn einzelne Menschen oder Organisationen können durch ihre Lebens- und Alltagserfahrungen Forschungsprozesse bereichern. Manchmal spielt auch Expert:innenwissen eine Rolle, wie die Fähigkeit, alte Schrift lesen oder bestimmte Insektenarten klassifizieren zu können.“

Moritz Müller: „In vielen Citizen Science Projekten geht es auch nicht nur darum, eine Forschungsfrage zu beantworten, sondern tatsächlich am Ende auch Lösungsansätze für die Praxis zu entwickeln. Im FLOW-Projekt beispielsweise wird die Qualität von Fließgewässern untersucht (Spoiler: schlechter Zustand) und gemeinsam mit den Bürgerforschenden wird nun überlegt, wie Renaturierungsmaßnahmen aussehen und umgesetzt werden können. Viele Citizen-Science-Projekte verfolgen also nicht nur wissenschaftliche Ziele, sondern versuchen auch, einen Beitrag zu besseren Lebensbedingungen zu erreichen. Citizen Science wirkt also auch sozial innovativ, was unter anderem co-kreative Forschungsansätze in der Forschung rund um die Themen Altern und Pflege unterstreichen. Soziale Innovationen können, müssen aber nicht zwangsläufig, ein Ergebnis von Citizen Science sein. Gleichzeitig ließe sich aber auch darüber diskutieren, ob allein die Form der Zusammenarbeit in Citizen Science eine Vorstufe Sozialer Innovation ist. Schließlich ist es das Ziel von Citizen Science, das Wissenschaftssystem zu verändern.“ 

Praxisbeispiel zur Umsetzung von Citizen Science im Kontext sozialinnovativer Ansätze: „Kooperative Herstellung von Nutzerautonomie im Kontext der alternden Gesellschaft“

Citizen-Science-Projekte mit Bezug zu gesellschaftlichen Herausforderungen können ganz unterschiedliche Herangehensweisen verfolgen. Tanja Aal und Dennis Kirschsieper (Universität Siegen) geben einen Einblick in einen Ansatz, den sie im Rahmen des DFG Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ umsetzen:

„Viele Menschen möchten im Alter möglichst lange in ihrer vertrauten Umgebung bleiben und nicht vorzeitig in ein Alters- oder Pflegeheim einziehen müssen, auch wenn sie auf Hilfe und Unterstützung angewiesen sind. Das Teilprojekt A05 „Kooperative Herstellung von Nutzerautonomie im Kontext der alternden Gesellschaft“ des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ der Universität Siegen adressierte diese Problematik gemeinsam mit Bürger:innen in einer Gemeinde in der Schweiz. Zunächst wurde eine qualitative Interviewstudie durchgeführt, um die Lebenssituation und die Hilfebedarfe der älteren Menschen vor Ort genau zu verstehen. Ein wesentliches Ergebnis der Studie besteht in der Identifizierung verschiedener psychischer und sozialer Barrieren wie zum Beispiel Scham oder Schuldgefühlen, die es Menschen erschweren, nach Hilfe zu fragen, Hilfe anzunehmen und Hilfe zu geben. Zur Überwindung dieser Barrieren wurde gemeinsam mit den Bürger:innen die Idee für eine sozio-technische Innovation entwickelt: eine digitale Hilfe-Plattform, die auch für ältere Nutzer:innen gut verständlich und leicht benutzbar ist. Innovativ ist dabei insbesondere, dass die Plattform nicht nur die Möglichkeit bietet, nach Hilfe zu fragen und Hilfe anzubieten, sondern Nutzer:innen auch selbst erlebte positive Geschichten über das Helfen hochladen und öffentlich teilen können, mit dem Ziel, Hilfebedürftigkeit zu entstigmatisieren und bei Leser:innen die Sichtweise auf das Helfen zu verändern, sodass Barrieren abgebaut werden.“ 

Weitere Informationen zum Teilprojekt gibt es hier:
https://www.mediacoop.uni-siegen.de/de/projekte/a05/

Dennis Kirschsieper hat Soziologie studiert und promoviert im Fach Soziologie zum Thema Privatsphäre und Datenschutz. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A05 des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ und forscht zu den Themen Telecare, Telemedizin und Digitalkompetenzen älterer Menschen.
 
Tanja Aal ist Sozio-Informatikerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im Teilprojekt A05 des Sonderforschungsbereichs „Medien der Kooperation“ der Universität Siegen und beforscht gemeindebasierte Fürsorge- und Pflegekonzepte sowie sozio-technische und sensorbasierte Infrastrukturen. 
 

Warum sollten Wissenschaftler:innen, die sich mit Sozialen Innovationen befassen, aus Ihrer Sicht Citizen-Science-Ansätze verfolgen?

Moritz Müller: „Soziale Innovationen sind, nach unserem Verständnis, Ziele eines kooperativen oder partizipativen Prozesses. Citizen Science beschreibt hingegen einen Forschungsmodus, der ein Bündel an Methoden umfasst, die in unterschiedlichen Teilbereichen, zum Beispiel Wissenschaft, Gesellschaft oder Politik, Innovationen freisetzen können. Nach diesem Verständnis ist es nur logisch, dass Wissenschaftler*innen, die sich mit Sozialen Innovationen befassen, Citizen Science zu ihrem methodischen Repertoire zählen.“

Wiebke Brink: „Letztlich darf man bei diesen Fragen aber auch nicht vergessen: Es geht nicht um Begrifflichkeiten und deren Verhältnis zueinander, sondern um Haltungsfragen. Gemeinsame Prinzipien von Sozialen Innovationen und Citizen Science sind Kooperation und Partizipation. In diesem Sinne treffen Wissenschaftler:innen, die sich den Sozialen Innovationen verschrieben haben, sowie solche, die sich zur Citizen Science zählen, sicherlich auch in der jeweils anderen Community Gleichgesinnte. Ich bin überzeugt davon, dass sich Forschende aus den Bereichen Citizen Science und Soziale Innovationen gegenseitig unterstützen und voneinander lernen können. Partizipative Prozesse sind ja keine Selbstläufer, sondern benötigen viel Zeit, Reflexion und oft auch Mut. Daher ist ein bestärkender Austausch, aber auch offene Kommunikation über Herausforderungen und Scheitern ein essenzieller Faktor für alle, die so arbeiten wollen. Insbesondere auch über die Grenzen von unterschiedlichen Communitys oder Bereichen hinweg.”  

Haben Sie die SIGU-Strategie der Bundesregierung wahrgenommen, und wenn ja, beobachten oder erwarten Sie Veränderungen, wenn es um die Themensetzung von Citizen-Science-Projekten geht?

Moritz Müller: „Die SIGU-Strategie der Bundesregierung ist insofern interessant, als sie einen starken Fokus auf die Innovationskraft von gemeinwohlorientierten Unternehmen legt. Was daher beim Lesen der Strategie direkt auffällt, ist, wie häufig die Rede von Unternehmen ist und wie selten in Relation dazu die Wissenschaft als Akteur genannt wird. Tatsächlich erlebe ich es im Rahmen von Vorträgen oder Workshops über Citizen Science außerhalb des Wissenschaftssystems, dass nach der Rolle der Wirtschaft in Citizen Science gefragt wird. Mit Blick auf die aktuelle Citizen-Science-Landschaft kann diese nur als ausbaufähig beschrieben werden. Die SIGU-Strategie und damit eventuell verknüpfte Förderprogramme könnten also eventuell den Anstoß dazu geben, dass im Citizen-Science-Bereich stärker und offener über Kooperation mit der Wirtschaft nachgedacht wird. Einher geht damit natürlich auch die Möglichkeit, neue Themen zu setzen, aber auch über andere Partizipationsformate zu erproben. In diesem Sinne birgt die SIGU-Strategie auch für Citizen Science ein großes Potential.“

Moritz Müller studierte Geschichte und Philosophie und kam durch die Arbeit an seiner Promotion zur Citizen Science. Seit März 2022 setzt er sich als wissenschaftlicher Koordinator der Citizen-Science-Plattform mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen mit den praktischen und theoretischen Fragen rund um Citizen Science auseinander.

Foto © Hwa Ja-Götz/Museum für Naturkunde Berlin

Wiebke Brink arbeitet als Projektleiterin bei Wissenschaft im Dialog und gestaltet dort seit 2013 den Aufbau und die Weiterentwicklung der Citizen-Science-Plattform mit:forschen! Gemeinsam Wissen schaffen. Als studierte Kulturwissenschaftlerin ist ihr inter- und transdisziplinäres Denken vertraut, Partizipation und (Wissenschaft-)Kommunikation sind ihre Themen.

Foto © Wissenschaft im Dialog

Team Wissenschaft der TU Dortmund

Wer steckt hinter dem Spotlight Wissenschaft?

Das Interview für das Spotlight Dezember führte das Team Wissenschaft der TU Dortmund.