Es ist nicht zu leugnen, dass Menschen, die in dünn besiedelten Regionen leben, häufig weniger Möglichkeiten haben, an kulturellem und Arbeitsleben sowie Bildung teilzuhaben, als in prosperierenden ländlichen Räumen oder urbanen Zentren (Barlösius / Neu, 2007). Aber: die konkreten wirtschaftlichen, klimatischen, landschaftlichen sowie sozialen und kulturellen Bedingungen ländlicher Räume sind sehr unterschiedlich. Es gibt nicht den ‚ländlichen Raum‘, sondern sehr unterschiedliche Bedingungen und Konfigurationen zwischen Ruralem und Urbanem. Jede Region verfügt über ein „hochindividuelles politisches, zivilgesellschaftliches, historisches und regionales Setting“, welches auch das Entstehen Sozialer Innovationen beeinflusst (Schubert, 2018, S. 376). Und dort, wo Menschen mit sozialen Innovationen zu experimentieren beginnen, schaffen sie auch die Voraussetzungen für das Entstehen einer neuen Gemeinschaftlichkeit (Bude, 2017). Daher lohnt es sich in jedem Fall, differenzierter auf ländliche Regionen zu blicken.
Dieser Beitrag ist aus der Perspektive einer Forschung geschrieben, die diejenigen Menschen in den Blick nimmt, die „im Heute die Ressourcen des Zukünftigen sehen, die aus dem, was ihre Orte und Regionen für sie bereithalten, Neues bauen. Sie schaffen so Soziale Innovationen, ohne die Transformationen nicht zu bewerkstelligen sind und nicht zuletzt verbinden sie Stadt und Land, das Dörfliche und das Städtische auf eine neue, in die Zukunft weisende Art“ (Willisch et al., 2024, S.13). In Bezug auf Transformationsfähigkeit und Soziale Innovationen kann viel von ländlichen Regionen gelernt werden, denn hier wird unter zum Teil schwierigen Bedingungen Neues erprobt und die Frage nach einem zukunftsfähigen Miteinander immer wieder neu ausgehandelt.
Ländliche Räume werden oft als weniger innovativ wahrgenommen – auch von den Innovierenden selbst
Dass ländliche Räume eher als ‚innovationsfern‘ wahrgenommen werden (Nell / Weiland, 2014), liegt unter anderem daran, wie die Innovationsfähigkeit von Regionen gemessen wird. Klassische wie beispielsweise Gründungsgeschehen, Patentanmeldungen oder die Dichte an Forschungs- und Entwicklungseinrichtungen sind in Bezug auf Soziale Innovationen in ländlichen Räumen kaum hilfreich. Im Gegenteil, die Strukturschwäche oder -stärke von Regionen besitzt kaum Aussagekraft über ihr Potenzial, Soziale Innovationen hervorzubringen. Manche Regionen kämpfen zwar mit wirtschaftlichen Problemen. Verfügen sie jedoch über starke zivilgesellschaftliche Dynamiken, können sie durchaus in der Lage sein, besser auf gesellschaftliche Umbrüche zu reagieren als scheinbar fortschrittliche Regionen mit einem hohen wirtschaftlichen Standard, aber geringem gesellschaftlichen Zusammenhalt und transformativen Fähigkeiten so Huber et al. (2023). Daher kritisieren Expert:innen dieses Forschungsfeldes die Bewertung von Regionen anhand der üblichen Indikatorik. Sie blende insbesondere nicht-marktförmige, alltägliche Lebenswelten und Praktiken aus, welche für die Lebenszufriedenheit ebenso bedeutsam sein können wie wirtschaftliche Faktoren (ebd.). Dies kann beispielsweise die gemeinschaftliche Pflege einer Streuobstwiese sein, auf welcher zudem Bildungs- und soziokulturelle Umsonst-und-Draußen-Veranstaltungen stattfinden.
Gleichsam werden ländliche Räume auch explizit als Orte für (Soziale) Innovationen beschrieben. Sie wurden, und werden nach wie vor, als Räume der Kreativität und des Experimentierens mit alternativen Gesellschaftsformen und Praktiken wahrgenommen. Menschen nutzen verfügbare Freiräume, um sich zurückzuziehen und Neues auszuprobieren. Nicht ohne Grund entwickelten und erprobten sich Reformbewegungen häufig in ländlichen Gegenden (Christmann, 2020). Abgesehen von transformatorischen Gemeinschaften erfolgten in empirischen Forschungsprojekten wie zum Beispiel Innovationsatlas oder Landing zahlreiche Interviews mit Bewohner:innen ländlicher Räume, welche Neues entwickeln oder Neuartiges ausprobieren und weiterentwickeln. Die neue Lösung wird dabei jedoch nicht unbedingt mit dem Begriff ‚Innovation‘ versehen. Die Gründe hierfür sind vielfältig, beispielsweise kann der Begriff zu Ablehnung in der lokalen Gemeinschaft führen. Außerdem nehmen Sozialinnovator:innen ihr eigenes Handeln häufig nicht als innovativ wahr. So äußerte sich beispielsweise ein Mitarbeiter eines Tourismusverbands im Interview zunächst dahingehend, dass sein Bereich nicht an innovativen Projekten in der Region beteiligt sind. Im Verlauf des Gesprächs erzählte er jedoch von einem bundesweit einzigartigen Pilotprojekt, bei welchen Camping auf eine neue Art und Weise organisiert und dadurch sowohl mit der wachsenden Nachfrage als auch mit dem Naturschutz in Einklang gebracht wird. In diesem Beispiel zeigt sich ein weiterer Aspekt, weshalb Soziale Innovationen in ländlichen Räumen häufig unter dem Radar bleiben: Soziale Innovationen sind meist „keine umwälzenden Erfindungen, sondern vielmehr geschickte Kombinationen aus vertrauten und neuartigen Ansätzen zur Befriedigung lokaler Bedürfnisse“ (Christmann / Federwisch, 2019, S.26).

Credit: Jörg Gläscher/Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.V.
Soziale Innovation zwischen Notwendigkeit und Gestaltungsfreude
Viele Landgemeinden befinden sich unter großem Innovationsdruck – besitzen aber auch Innovationswillen. Gerade dünn besiedelte Räume sind von den Folgen der demografischen Veränderungen in anderem Maße betroffen als verdichtete Räume. Der Rückzug des Wohlfahrtsstaates kann hier ein Treiber von Innovation und Ausgangspunkt zivilgesellschaftlichen Handelns zur Bewältigung der Herausforderungen sein, aus dem Soziale Innovationen entstehen können (Schubert, 2018). So ist nicht verwunderlich, dass Soziale Innovationen in Landgemeinden häufig zum Ziel haben, alltagsnotwendige Daseinsvorsorge zu organisieren wie beispielsweise Dorfläden, Bildungs- und Kulturorte, Gesundheitsinfrastruktur, Mobilität, etc. Aber auch die Frage nach der Nutzung von großen Immobilien im Zuge vereinzelter Wohnformen und einer alternden Gesellschaft führt zu Suchbewegungen nach anderen Arten des Zusammenlebens, des Wohnens und Arbeitens und der Nutzung von Freiräumen. Ein weiteres Innovationsfeld, welches immer wichtiger und dringlicher wird, ist die Entwicklung von demokratischen Diskussions- und Aushandlungsformaten, beispielsweise rund um Landnutzung oder erneuerbare Energien.
Schwindende Infrastrukturen können zwar Innovationsimpulse geben, allerdings stellt ihr Rückgang tatsächlich ein Problem dar – nicht nur für die Organisation des Alltags, sondern insbesondere auch für die Entwicklung Sozialer Innovationen. Denn „Infrastrukturen dienen nicht nur unserer Versorgung, sondern sind Bedingungen gesellschaftlicher Integration“ (Kersten et al., 2012, S. 563). In diesem Kontext werden insbesondere dritte Orte wie beispielsweise Cafés, Bibliotheken oder Kulturstätten hervorgehoben. Sie sind in Bezug auf die Innovationsfähigkeit von Regionen besonders interessant, „da sie Orte sind, an denen neue Ideen, Experimente und Allianzen in nicht machtförmigen Beziehungen entstehen können.“ (Huber et al., 2023, S.14). Ein Verlust an dritten, oder auch sozialen Orten, an denen Menschen sich begegnen, kommunizieren und Ideen austauschen, stellt immer auch ein Verlust von Sozialleben und Hemmnis für Innovationsaktivitäten dar. Ein Sachverhalt, an den wiederum zahlreiche innovative Projekte in ländlichen Räumen anknüpfen, indem sie explizit kulturelle und soziale Infrastrukturen gestalten, Orte der Gemeinschaft (wieder-) beleben und Anlässe zur Begegnung schaffen.

Credit: Jörg Gläscher/Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.V.
Neuerungen müssen in erster Linie einen Mehrwert bieten
Da Soziale Innovationen in ländlichen Regionen in der Regel eine direkt auf konkrete Herausforderungen und ungedeckte Bedarfe reagieren, liegt bei der Entwicklung der Fokus darauf, eine pragmatische Lösung für die bestehende Situation zu finden. Ob diese innovativ ist, ist zweitrangig. Wenn sich eine Herausforderung mit den etablierten Praktiken, Mustern und Ansätzen nicht bewältigen lässt, werden neuartige Konzepte und Strategien ausprobiert, ausgetretene Wege verlassen und neuartige Ansätze ausprobiert oder entwickelt. Neue Ansätze und Entwicklungen werden in erster Linie daran gemessen, ob sie als „passend“ für den konkreten lokalen Kontext empfunden werden und sich bewähren.
Diese Offenheit, Lösungen zu adaptieren und anzupassen, stellt ein Potenzial insbesondere für die Ausbreitung Sozialer Innovationen dar. Betrachtet man, dass in Deutschland etwa die Hälfte der Menschen in ländlichen Räumen leben, ist dieser Nachahmungswille eine gute Voraussetzung für eine gesamtgesellschaftliche Verbreitung Sozialer Innovationen. Auf der anderen Seite liegt der Fokus der Innovator:innen zumeist auf der lokal angepassten Lösung, ihre Absicht ist es in der Regel nicht, einen regional übertragbaren innovativen Ansatz zu entwickeln, welcher die Möglichkeiten der Verbreitung von Beginn an mitdenkt. Dies wiederum hemmt Ausbreitungseffekte in andere Regionen.
Akteur:innen ländlicher Innovation
Wer sind die Menschen, die in ländlichen Regionen Soziale Innovationen entwickeln? Auch hier lautet die Antwort: Es kommt auf die Region an. Klar ist, es braucht Menschen, die Ideen einbringen, Menschen zusammenbringen, Prozesse organisieren und koordinieren. So genannte Schlüsselpersonen besitzen eine klare Handlungsorientierung und genießen soziale Akzeptanz, woraus häufig die Federführung bei der Entwicklung einer Sozialen Innovation resultiert. Das können Einheimische sein, Zugezogene oder extern beratende Fachkräfte (Christmann / Federwisch, 2019). Als besonderer Erfolgsfaktor wird beschrieben, wenn diese Person ein Amt (beispielsweise Bürgermeister:in, Vereinsvorsitz, Ortsvorstand, etc.) innehat und somit institutionell eingebunden ist. Eine weitere Gruppe, der in ländlichen Räumen eine besondere Rolle zugeschrieben wird, sind Zugezogene bzw. Rückkehrer:innen. Diese werden als ‚Triebkräfte im Innovationsprozess‘ beschrieben. Sie fungieren als Ideengeber:innen, die Erfahrungswissen aus anderen Räumen und Kontexten für regionale Innovationsprozesse nutzbar machen (ebd.). Durch ihre Verbindungen in überregionale Netzwerke können sie lokal nicht vorhandenes Wissen einholen, wodurch lock-in Effekte vermieden werden können (Schubert, 2018). Diese Akteursgruppe wird biografisch abgegrenzt von den ‚Einheimischen‘ oder der ‚ursprünglichen Dorfbevölkerung‘, was jedoch gewisse Schwierigkeiten bei der Definition dieser Akteursgruppe mit sich bringt.
Soziale Innovationen aus der Zivilgesellschaft
Wo Staat und Wirtschaft nicht in der Lage sind, Infrastrukturen bereit zu stellen, ist vielfach die Zivilgesellschaft gefragt. Ihr wird seitens politischer Vertreter:innen Verantwortung zugeschrieben, gleichsam übernehmen zivilgesellschaftliche Akteure diese auch im Sinne einer Selbstresponsibilisierung (Steinführer, 2015) und Selbstaktivierung (Neu, 2014). Diese Prozesse sind insofern wirksam, da sie an traditionelle Praktiken der Selbstorganisation und dem Selbstbild des gemeinschaftlichen Bewältigens von Herausforderungen in ländlich geprägten Räumen anschließen.

Credit: Jörg Gläscher/Thünen-Institut für Regionalentwicklung e.V.
„Gerade von zivilgesellschaftlich Engagierten können individuelle Lösungen und Innovationen ausgehen, die den Problemen des demografischen Wandels gerechter werden als Bewältigungsmechanismen überlokaler Instanzen.“ (Schubert, 2018, S. 378). So beschreibt Christoph Schubert ein Ergebnis einer Studie, die 2014/2015 in drei ländlichen Gemeinden durchgeführt wurde. Sie hat gezeigt, dass die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft, auf Bedarfe zu reagieren, regional sehr unterschiedlich sind. Ein großes Potenzial für Soziale Innovationen aus der Zivilgesellschaft besteht gerade an Orten, in denen die Akteure aus Politik und Verwaltung nicht in der Lage sind, Lösungen aus ihren Strukturen heraus zu realisieren (ebd.). Während in einer Ortschaft zivilgesellschaftliche Akteur:innen auf den Wegfall einer Institution mit der Reorganisation vorhandener Strukturen des Engagements reagieren, um die Attraktivität des Ortes zu erhalten, stehen in anderen Ortschaften gerade diese Engagierten nicht zur Verfügung. Hier müssen Lösungen durch kommunalpolitische Akteur:innen top-down initiiert werden, da vorhandene Vereinsstrukturen und kirchliche Akteure weite Teile des Potenzials lokal Engagierter binden. In den Strukturen des ‚neuen‘ Engagements, so die Studie, entstehen Soziale Innovationen eher, da diese flexibel und offen genug für Innovationsprozesse sind. Es werden eigene Themen benannt und selbstbestimmte Wege zur Lösung von Problemen entwickelt. Diese Untersuchung zeigt anschaulich, wie Vereine einerseits innovationsfördernd sein können, wenn sie in der Lage sind, Menschen zu aktivieren und zu integrieren, jedoch auch innovationshemmend wirken können, wenn sie die gesamten Ressourcen von Engagierten binden, so dass sie keine Kapazitäten mehr haben, um entstehende Herausforderungen zu bearbeiten.
Hier zeigt sich das Potenzial, aber auch die Grenzen dieser Akteursgruppe. Einerseits sind zivilgesellschaftlich Engagierte in der Lage, Lösungen für Probleme zu entwickeln. Wird von ihnen jedoch erwartet, die Folgen demografischer Veränderungen alleinig zu kompensieren, kann dies zur Überforderung lokaler Akteur:innen und sozialer Strukturen führen – mit einer entsprechenden Verschlechterung der Situation vor Ort.
Disruptive Innovator:innen auf dem Land
Über das klassische Engagement hinaus gehen die Aktivitäten von Raumpionier:innen, Changemaker oder Neulandgewinner:innen. Wie Seismographen spüren sie Transformationsmöglichkeiten auf und gehen die großen Themen unserer Gesellschaft lokal an. Geprägt durch ein tiefes Vertrauen darin, dass Veränderung möglich ist, entwickeln sie durch praktische Weltveränderung neue Formen der Gemeinschaft und nutzen dabei räumliche Ressourcen, die in ländlichen Regionen verfügbar sind. Mit ihren Projekten verbessern sie einerseits direkt die Lebensqualität vor Ort, aktivieren in diesem Zuge auch Mitstreiter:innen und tragen zur Festigung des sozialen Miteinanders bei. „Neulandgewinner:innen sind solche Vor-Ort-Pioniere des alltäglichen Lebens auf dem Land“(Frech et al., 2017, S.15). Sie werden von Cordula Kropp (2017, S.156) auch als eine „erfinderische Zivilgesellschaft für radikal-innovatives Handeln“ beschrieben. Sie suchen Antworten auf die praktischen Fragen des Zusammenlebens, probieren neue Arten von Gemeinschaftlichkeit aus und zeigen ländliche Gemeinden als Orte, in denen es Herausforderungen aber auch die Ressourcen zu deren Bewältigung gibt (ebd.). Nach dem Motto «die Letzten werden sie ersten sein» geben sie eine Perspektive, indem sie in peripherisierten Regionen „jene Ressourcen, die in den überhitzen Zentren bald fehlen könnten“ erhalten und zur Rückerlangung der lokalen Handlungsfähigkeit beitragen (ebd.). Das ‚Neuland‘, welches diese Akteur:innen entdecken, hervorbringen und zusammenfügen, existiert längst. Es ist ein Land, das jedoch noch nicht genügend sichtbar ist. „In ‚schrumpfenden Städten‘, vergessenen Landschaften und aufgegebenen Industrieorten haben sich oft soziale Ökonomien des Überlebens entwickelt, die den Dagebliebenen, Zurückgekehrten und Zugezogenen Chancen der Subjektivierung eröffnen“ (Bude, 2017, S. 177). Bude beschreibt die Orte als Räume für Soziale Innovationen, in denen sich widerständige Subjekte wiederfinden, für die Konsum allein nicht mehr in Frage kommt. „Neulandgewinnung [ist] im Kern ein Engagement dafür, Bindungen auf experimentelle Weise herzustellen“ (ebd.). Gemäß dem Motto „think global act local“ werden Prototypen einer sozial-ökologischen Transformation im Kleinen entwickelt und erprobt. Es werden Orte für neue Erfahrungen und gemeinsames Lernen geschaffen, neue Handlungspraktiken und Routinen eingeübt. Dabei beschränken sich diese Neulandgewinner:innen bald nicht mehr auf ‚Reparaturinnovationen‘, „vielmehr stoßen sie immer neue Projekte und Prozesse an, lassen sich immer weniger von Sektoren und Zuständigkeitsgrenzen aufhalten, aber von ihrer erfolgreichen Praxis beflügeln“ (Kropp, 2017, S. 158). Diese transformativen Sozialen Innovationen weisen alle Merkmale disruptiver Innovationen auf; sie drehen nicht am ‚kleinen Rädchen‘, sondern bewegen viele Dinge gleichzeitig: Kooperationsformen, Selbstverständnisse, eingeschliffene Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster, organisatorische Lösungen und Absprachen, Schnittstellen zum Mainstream, passendes Know-how, Ressourcenbezüge und Routinen (ebd.).
Dieser Akteursgruppe geht es um mehr als um die pragmatische Lösung für den eigenen Ort, sie tragen bewusst und aktiv dazu bei, dass sich Soziale Innovationen verbreiten. „Dabei sind sie weniger an einer vertikalen Diffusion (Scaling-up und Wachstum) interessiert als an einer horizontalen Verbreitung der neu gewonnenen Handlungsmöglichkeiten (Inspiration und Imitation).“ (ebd.) Ihr Handeln ist Netzwerk-basiert, woher auch ihr Bestreben kommt, dass sich ihre Ideen wie Erdbeeren vervielfältigen: Ableger bilden und in andere räumliche und thematische Kontexte ausbreiten. Eine zentrale Ressource hierfür sind ihre zahlreichen und vielfältigen Verbindungen innerhalb und außerhalb der Region.
Akteursnetzwerke ländlicher Innovation
An Orten mit einer hohen Innovationsdynamik finden sich gewachsene regionale Netzwerkstrukturen, die Impulse von außen gut aufnehmen und lokal in Anwendung bringen können. Dabei wird die Relevanz, aber auch die Fragilität der Beziehungen – die vielfältigen sich überlagernden, verdichteten und aufeinander bezogenen Verbindungen – immer wieder betont.
(Aus einem Interview mit einer Mitarbeiterin in der Verwaltung auf Leitungsebene für das Projekt Innovationsatlas)
So unterschiedlich die ländlichen Räume sowie die aktiven Akteure und deren Konstellationen auch sind, eines haben die fallgebenden Regionen, gemeinsam: Diejenigen, die innerhalb einer Region Veränderungsprozesse gestalten, wissen voneinander. Die Netzwerke der Aktiven erstrecken sich dabei zum Teil über erhebliche Entfernungen und bestehen aus einer überschaubaren Anzahl an Akteur:innen – der Begriff des „Klassentreffens“ wird immer wieder herangezogen. Man kennt sich, Vertrauensverhältnisse sind über die Jahre und häufig auch über verschiedene Projekte hinweg gewachsen. „Bindungen entstehen dadurch, dass Menschen gemeinsam etwas zustande bringen, dass sie Erfahrungen und Erinnerungen teilen und dass sich daraus das Gefühl entwickelt, sich aufeinander verlassen zu können“ (Bude, 2017, S.177 in Neuland gewinnen). Dies ist ein Prozess, durch den stabile Beziehungen entstehen können, welcher aber auch mit der Bildung exklusiver ‚Bubbles‘ und alten Seilschaften einhergehen kann, die wenig Offenheit und Teilhabemöglichkeiten für neue Akteur:innen ermöglichen. Die geringe Anzahl von Akteur:innen kann Innovation folglich auch hemmen; es sind schlichtweg immer wieder dieselben Menschen, die viel Zeit, Energie und finanzielle Ressourcen investieren und dabei immer wieder an die eigenen Grenzen gehen.
Fazit
Eines haben alle ländlichen Räume gemein: Innovator:innen in ländlichen Regionen sind bereit umfangreiche zeitliche, finanzielle und soziale Ressourcen in die Entwicklung lokaler Lösungen zu investieren, deren Umsetzung zum Teil mit einem hohen wirtschaftlichen und sozialen Risiko verbunden ist. Diese Eigenleistungen stellen eine Art Risikokapital in ein Projekt dar, bei welchem weder die erfolgreiche Umsetzung noch der erhoffte soziale oder ökologische Ertrag sichergestellt ist. Ob und in welcher Art dieser ‚return on invest‘ eintritt, zeigt sich oft erst Jahre später und wird in der Regel daran gemessen, ob das Projekt erfolgreich ist und einen gesellschaftlichen Mehrwert bietet.
Ob man nun in einer Region mit wachsenden Hidden Champions am Dorfrand oder in einer Kleinstadt lebt, die von einem tiefgreifenden Strukturwandel betroffen ist – die Zukunftsfähigkeit ländlicher Regionen hängt entscheidend davon ab, ob Soziale Innovationen wichtige gesellschaftliche Umgestaltungsprozesse anstoßen können (Huber et al., 2023). Ländliche Räume verfügen über spezifische Eigenheiten, welche für Soziale Innovationen sowohl begünstigend, aber auch hemmend wirken können. Sie haben mit Herausforderungen zu kämpfen, besitzen gleichsam vielerorts auch gute Voraussetzungen für eine beziehungs- und ressourcenbasierte Regionalentwicklung, für die insbesondere Soziale Innovationen zukunftsfähige Lösungen darstellen können. Wo sich gemeinschaftliche Strukturen und Prozesse entwickelt haben und erfolgreich Neues etabliert wurde, können Kaskadeneffekte entstehen, die zu immer weiteren Sozialen Innovationen führen. Diese Innovationsorte haben das Potenzial, sich immer wieder neu zu erfinden und langfristig Resiliente soziale Strukturen mit hoher Lebensqualität herauszubilden.
Zum Weiterlesen: Wie können Soziale Innovationen in ländlichen Räumen unterstützt werden?
Vor einem diversen Kreis von Mitwirkenden wurde unter der Leitung der Andreas Hermes Akademie Handlungsempfehlungen erarbeitet und im Rahmen einer Werkstatt der Veränderung auf dem SIGU-Forum vorgestellt. Ein Link zur finalen Fassung folgt in Kürze.
- Barlösius, E., Neu, C. (2007) Gleichwertigkeit – Ade?“ Die Demographisierung und Peripherisierung entlegener ländlicher Raume. PROKLA 146 Zeitschrift für kritische Sozialwissenschaft 37 (1): 77–92
- Bude, H. (2017). Soziale Experimente und transformatives Wissen. In Frech, S., Scurrel, B., Willisch, A. (2017). Neuland gewinnen, Zukunft in Ostdeutschland gestalten.
- Christmann, G. (2020), Wie man soziale Innovationen in struktuschwachen ländlichen Räumen befördern kann. Policy Paper
- Christmann, G., Federwisch, T. (2019), Soziale Innovationen in Landgemeinden – wie sie entstehen und was sie begünstigt. In: Nachrichten der ARL 02/2019 S.26-28
- Frech, S., Scurrel, B., Willisch, A. (2017) Neuland gewinnen, Zukunft in Ostdeutschland gestalten.
- Huber, A., Hielscher, S., Rhode, F., Jaeger-Erben, M. (2023). Auf dem Weg zu einem Verständnis reagionaler Transformationsfähigkeit: Neue Gemeinschaftlichkeit und soziale Innovationen für zukunftsfähige Regionen. Arbeitsbericht des Forschungsprojekts WIRinREGIONEN. https://www.wir-in-regionen.de/zum-weiterlesen/
- Kersten, J., Neu, C., und Vogel, B. (2012). Die demografische Provokation der Infrastrukturen. Leviathan. Zeitschrift für Sozialwissenschaft 40 (4): 563–90.
- Kropp, C. (2017). Innovationspolitik in der Praxis. In Frech, S., Scurrel, B., Willisch, A. (2017) Neuland gewinnen, Zukunft in Ostdeutschland gestalten.
- Nell, W., Weiland, M. (2014), Imaginäre Dörfer. Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt.
- Neu, C. (2014). Ländliche Räume und Daseinsvorsorge – Bürgerschaftliches Engagement und Selbstaktivierung. In Think Rural! Dynamiken des Wandels in peripheren ländlichen Räumen und ihre Implikationen für die Daseinsvorsorge, Hrsg. Dünkel, F., Herbst, M., Schlegel, T. 117–24.
- Schubert, C. (2018). Soziale Innovationen im ländlichen Raum – Zivilgesellschaft und kommunale
- Verwaltungsstruktur als begünstigende und hemmende Faktoren. Hrsg. Franz, H-W., Kaletka, C. Soziale Innovationen lokal gestalten.
- Steinführer, A. (2015). Bürger in der Verantwortung. Veränderte Akteursrollen in der Bereitstellung ländlicher Daseinsvorsorge. Raumforschung und Raumordnung 73 (1): 5–16.
- Willisch, A., Harmel, E., Eckert, A. (2024). Transformative Regionen – Neue Handlungsräume zwischen Land und Stadt https://www.transcript-verlag.de/detail/index/sArticle/6820/6820