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Anwendungsorientierte Arbeitsforschung und Soziale Innovation

18. März 2024

Arbeitsforschung ist ein Begriff aus dem Bereich der Sozialwissenschaften und bezieht sich auf die systematische Untersuchung von Arbeitsprozessen, Arbeitsbedingungen und Arbeitsorganisation in verschiedenen Kontexten. Das Hauptziel der Arbeitsforschung besteht darin, ein besseres Verständnis für die Arbeitswelt zu gewinnen, um Arbeitsplätze effizienter, sicherer, gesünder und zufriedenstellender zu gestalten. 

Anwendungsorientierte Arbeitsforschung und ihre spezifische Gestaltungskompetenz und -erfahrung in Zusammenhang mit Digitalisierung und sozial-ökologischer Transformation erfährt seit mehr als einer Dekade erhöhte Aufmerksamkeit auf nationaler wie auf europäischer Ebene. Sie umfasst dabei ein breites und facettenreiches Themenfeld mit vielen interdisziplinären Bezügen. Traditions- und Schlüsselthemen sind arbeitsweltbezogene Soziale Innovationen in und zwischen Organisationen sowie die Wechselwirkungen von Organisationen und relevanten Kontexten (Innovationspolitik, Arbeitspolitik, Sozialpolitik, Regionalpolitik, Umweltpolitik etc.).

Soziale Innovationen sind hier zu verstehen als die Entwicklung neuer sozialer Praktiken im Bereich der Arbeitsorganisation, der Mitarbeitendenbeteiligung, der Gestaltung der Mensch-Maschine-Interaktion, des Innovationsmanagements, der zwischenbetrieblichen Kooperation und vielem mehr. 

Von prominenter Seite wurde der Zusammenhang von Sozialer Innovation und Management in einer Publikation zum ersten Mal 1987 explizit durch den als Pionier moderner Managementtheorie und -praxis geltenden amerikanischen Ökonomen Peter Drucker (Drucker 1987) thematisiert. Dabei baute er unter anderem auf seinen zuvor entwickelten Überlegungen zum Verhältnis von Innovation und Entrepreneurship auf. Demnach bilden innovative soziale Praktiken (zur Entdeckung von Innovationschancen, zur Wissensgenerierung, Entwicklung nachhaltigkeits- und gesundheitsförderlicher Strukturen und Prozesse) generell den Kern von Unternehmertum.

Aktuell erhöht die missionsorientierte Innovationspolitik auf europäischer und nationaler Ebene den Druck auf Unternehmen, verstärkt zur Lösung großer gesellschaftlicher Probleme im Sinne einer stärkeren Gemeinwohlorientierung und zur Vertiefung der Humanzentrierung des Menschen in der Produktion (Technologie soll Menschen individuelle Hilfestellung ermöglichen) beizutragen. Eine wichtige Prämisse der Arbeitsforschung ist die partizipations- und mitbestimmungsbasierte Gestaltungsmöglichkeit und -notwendigkeit von Arbeit. Beides kann in engem Zusammenhang mit der Einführung neuer digitaler Technologien wie beispielsweise die Verbindung von informations- und softwaretechnischen mit mechanischen Komponenten (cyberphysikalische Systeme) oder Künstliche Intelligenz stehen oder aber als arbeitsbezogene soziale Innovation in Erscheinung treten. Dabei stellt das bereits in den 90er Jahren in der Arbeitspsychologie entwickelte Mensch-Technik-Organisationsmodell eine wichtiges Orientierungshilfe dar, um Gestaltungsspielräume ausloten zu können. Dabei werden die Schnittstellen als Gestaltungsfelder betrachtet, die sich nicht isoliert, sondern nur gemeinsam optimieren lassen (Joint Optimization).

Schnittstellen im sozio-technischen System

Schnittstellen im sozio-technischen System (Deuse et al. 2019, S.6).

Anwendungsorientierte Arbeitsforschung wird häufig in Verbundprojekten umgesetzt und dient als Rahmen für kollaborative, bisweilen konfliktreiche Lern- und Entwicklungsprozesse von Akteur:innen aus Wissenschaft, Unternehmen, Gewerkschaften sowie unter Einbezug von Beschäftigten und ihren Interessensvertretungen. In Deutschland hat unter anderem das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) über Jahrzehnte hinweg und bis heute eine große Anzahl anwendungsorientierter Programmlinien und Projekte zunächst im Bereich von Produktionsarbeit, später aber auch zu (personenbezogener) Dienstleistungsarbeit gefördert. Ausgangspunkt bildete in den 70er Jahren die immer noch aktuelle Zielstellung einer Humanisierung des Arbeitslebens (HdA) und einer sozialverträglichen Technikgestaltung, einem Förderprogramm der Bundesregierung bei dem es um Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeitsinhalte und der Arbeitsbedingungen der Beschäftigten ging.

Eine so ausgerichtete Arbeitsforschung zielt auf die Gestaltung von Arbeit als konfliktträchtigen, aber konsensorientierten Aushandlungsprozess, in dem die Betroffenen zu Beteiligten gemacht und als solche empowert werden. Derartige Verbundprojekte dienen auch als Blaupause für neuere Multi-Stakeholder-Interaktionsformen wie Reallabore oder Realexperimente.

Schwerpunkte: Humanzentrierung als traditionsreicher Gegenstand deutscher und europäischer Arbeitsforschung 

Missionsorientierte Innovationspolitik unterstützt die Ansprüche der Beschäftigten, substanziellen Einfluss auf ihre eigenen Arbeitsbedingungen, Arbeits- und Innovationsprozesse nehmen zu können. Dies erfordert von Unternehmen eine Forcierung der Humanzentrierung (einschließlich der Erweiterung von Mitgestaltungs- und Mitbestimmungsmöglichkeiten aller arbeitsbezogenen Sachverhalte). 

Arbeitsforschung kann hier ihre traditionellen Stärken in Form von Orientierungs- und Gestaltungswissen basierend auf einer Vielzahl theoretischer Konzepte unter anderem der Arbeits-, Technik, Organisationssoziologie und -psychologie einbringen. Anwendungsorientierte Arbeitsforschung stellt in der derzeitigen deutschen Digitalisierungsdebatte sowie auf gesamteuropäischer Ebene (Oeji et al. 2023), einen zentralen Bezugspunkt dar. Sie unterstützt die Reflexion von und den Umgang mit Phänomenen der Entgrenzung von Organisation und Arbeit, der Komplexität und Geschwindigkeit von Kommunikationsprozessen, der Vielzahl sich dynamisch verändernder Interaktionsakteur:innen, der Digitalisierung, Arbeitsanforderungen, Kompetenzbedarfe, Belastungen und vieles mehr. 

Grundsätzlich adressiert anwendungsorientierte Arbeitsforschung ein breites Spektrum inhaltlich teilweise ineinandergreifender und interdisziplinär zu bearbeitender Gegenstandsbereiche beziehungsweise Handlungsebenen, die von der Mikroebene einzelner Arbeitsplätze über die Ebene von Abteilungen, Gesamtorganisationen und Netzwerken bis zu branchenweiten, regionalen oder gesamtgesellschaftlichen Transformationen reichen können. 

Dabei sind die arbeitsbezogenen Sozialen Innovationen in sich widersprüchlich und im Hinblick auf die Qualität der Arbeit nicht grundsätzlich besser, sondern bergen meist gestaltungsabhängige Potenziale sowohl in Richtung verschärfter Einschränkungen, Belastungen und Entwertungen von Arbeit als auch in Richtung guter Arbeit. 

Die Gestaltungsmöglichkeiten werden beträchtlich durch das System industrieller Beziehungen und arbeitspolitische Rahmensetzungen (dies bedeutet in Deutschland durch sozialpartnerschaftliche Modelle und Mitbestimmungsrecht) beeinflusst, die ihrerseits als Ergebnisse Sozialer Innovationen in Erscheinung treten. Aufgrund der Spannbreite und Vielzahl an zudem noch ineinander verschränkten Themenfeldern können hier nur einige Beispiele Sozialer Innovationen der Arbeitswelt als Gegenstand von Arbeitsforschung illustrativ herausgegriffen werden. Insofern Digitalisierung quer zu den Themenfeldern liegt, wird sie hier trotz ihrer immensen Bedeutung nicht gesondert aufgeführt.

Um während wirtschaftlichen Flauten Entlassungen und damit verbundene negative Auswirkungen für die Beschäftigten sowie für die Unternehmen zu verhindern (Kompetenzverluste) wurde in Deutschland erfolgreich mit dem Instrument der Kurzarbeit experimentiert.

Gruppen- bzw. Teamarbeit stellt eine bereits Jahrzehnte zurückliegende Innovation dar, die mit einer Vielzahl an Experimenten zur Gestaltung von Teilautonomie, Dezentralisierung von Verantwortung, Beteiligung an Arbeitsoptimierung verbunden war. Heute stehen agile Varianten im Mittelpunkt der Betrachtung.

Die Frage nach den themenfeldspezifischen Folgen von organisatorischen und technologischen Veränderungen für die Beschäftigten und die Erschließung von Chancen verbesserter Arbeitsbedingungen und Aufwertung von Arbeit stellt ein Kernanliegen der Arbeitsforschung dar. In enger Verbindung hierzu steht die Entwicklung neuer Weiterbildungs- und Ausbildungsangebote, neuer Formen der Kompetenzentwicklung wie zurzeit individuelles Lernen am Arbeitsplatz, Lernen in immersiven Welten, plattformunterstütztes Lernen, Lernfabriken und vielem mehr

Unternehmensgrenzen werden zunehmend durchlässiger. Es bilden sich neue Formen des Innovationsmanagements sowie der Wissensorganisation und des Wissensmanagements in interorganisationalen und transorganisationalen Netzwerken heraus. Die Integration von Know-how von externen Akteur:innen (Berater:innen, Zuliefer:innen, Anwender:innen und Kund:innen) wird immer bedeutsamer (Stichwort Open Innovation). Allerdings spielen die Öffnungsprozesse auch bei der Entgrenzung von Arbeit (im Sinne der zunehmenden Auflösung von zeitlichen, räumlichen und sachlichen Strukturen der Erwerbsarbeit) eine zentrale Rolle. Mit Plattformarbeit aber auch mit der Zunahme von Arbeiten im Homeoffice entstehen neue Chancen (gewünschte Flexibilität) und Risiken (neue Belastungen, einseitige, kurzzyklische unqualifizierte Tätigkeiten) für Beschäftigte.

Geschlechterverhältnisse stellen einen integralen Bestandteil der Analyse, der Bewertung und der Gestaltung von Arbeit und Organisation dar. Ohne die Berücksichtigung von Geschlecht als zentrale gesellschaftliche Struktur- und Prozesskategorie, ist demzufolge weder ein angemessenes Verständnis der gesellschaftlichen Organisation von Arbeit noch die Entwicklung von Handlungsansätzen für mehr (geschlechter-)gerechte Arbeit möglich. Arbeitsforschung zielt auf grundsätzliche Chancengleichheit. In anwendungsorientierter Perspektive geht es um die Überwindung geschlechterunterscheidender Strukturen (ungleiche Bezahlung, Benachteiligung bei Stellenbesetzungen und Aufstiegsmöglichkeiten).

Anwendungsorientierte Arbeitsforschung ist stark durch nationale Zuschnitte und Bezugspunkte geprägt. Dabei lohnt der Blick über den Tellerrand. So gehen insbesondere industriebezogene Forschungsprogramme der Europäischen Union wie Processes4Planet oder auch das Forschungsrahmenprogramm Horizon Europe mehr und mehr von einem integrierten Verständnis Sozialer und Technologischer Innovationen aus. Damit erweisen sich Prämissen und Erkenntnisse der Arbeitsforschung aus dem deutschsprachigen, niederländischen oder auch dem skandinavischen Raum auch auf europäischer Ebene als tragfähig. 

Ein Beleg hierfür ist das von der EU-Kommission angeregte Industry-5.0-Konzept, mit dem die durchaus im deutschen Konzept der Industrie 4.0 angelegte Humanzentrierung weiter vertieft und zum Dreh- und Angelpunkt einer nachhaltigen und resilienten Produktion avancieren soll. Hier wie dort spielen Formen adäquater Arbeitsorganisation und Kompetenzentwicklung eine große Rolle. Kernanliegen der EU ist es den Menschen nicht Profitinteressen unterzuordnen oder an Technologieerfordernisse anzupassen, sondern Technologien so auszuwählen und so zu organisieren, dass die Ansprüche der Beschäftigten an ihre Arbeit maximal befriedigt werden können. Durch die Verknüpfung mit Aspekten der Nachhaltigkeit (ökologieorientierte Ziele) und Resilienz (beispielsweise Aufbau krisenfester Lieferketten) soll die Produktion auch gesellschaftlichen Anforderungen Rechnung tragen.    

Schaubild zur Industrie 5.0

Drei Elemente der Industrie 5.0: Humanzentrierung, Resilienz und Nachhaltigkeit (Quelle: Brèque et al. 2021: 13)

Perspektive: Sozialökologische Transformation und zivilgesellschaftliche Akteure als Bezugspunkte der Arbeitsgestaltung 

Missionsorientierte Innovationspolitik und hiermit verknüpfte gesellschaftliche Transformationsvorhaben erfordern die breite Einbindung der Öffentlichkeit bei der Gestaltung angestrebter Wandlungsprozesse. Sie geht mit der Notwendigkeit einher, den Blick nicht nur nach innen auf die Humanzentrierung von Organisationen zu richten, sondern auch nach außen, das heißt auf Formen ihrer demokratischen Öffnung zur Region im Sinne einer Erhöhung der Einflussmöglichkeiten regionaler Akteur:innen, insbesondere der Zivilgesellschaft auf Unternehmensentwicklung. Bestehende Ansätze von Corporate Governance, Shared Value, organisationaler Nachhaltigkeit und betrieblicher Corporate Social Responsibility (CSR) gehen hier nicht weit genug. Sie bleiben unternehmenszentriert und hochselektiv im Bezug zur Zivilgesellschaft, können aber weiterentwickelt werden. Für die Verknüpfung von traditionellen Themen der Arbeitsforschung mit Themen der sozial-ökologischen Transformation beziehungsweise der Gestaltung aktiver und breit angelegter Interaktionsbeziehungen zwischen Beschäftigten aus Unternehmen und Vertreter:innen der Zivilgesellschaft lassen sich erste praktische Ansätze (zum Beispiel Bürgerräte, Transformationsräte, Transformationsnetzwerke) und weiterführende Forschungskonzepte (Becke 2019) finden. Es bedarf jedoch erheblicher Weiterentwicklungen auf Grundlage noch zu initiierender Realexperimente.

Literatur

Becke, G. (Hrsg.) (2019): Gute Arbeit und ökologische Innovationen – Perspektiven nachhaltiger Arbeit in Unternehmen und Wertschöpfungsketten. Oekom Verlag: München

Breque, M., De Nul, L., & Petridis, A. (2021). Industry 5.0: towards a sustainable, human-centric and resilient European industry.Luxembourg, LU: European Commission, Directorate-General for Research and Innovation. Verfügbar unter: https://data.europa.eu/doi/10.2777/308407 (Zuletzt aufgerufen: 14.03.2024)

Deuse, J.; Hirsch-Kreinsen, H.; Nöhring, F.; Wienzek, T. (2019): Kompass Digitalisierung. Eine Gestaltungshilfe für gute digitale Arbeithttp://www.steps-projekt.de/fileadmin/Templates/Steps_Projekt/Media/20190524_Kompass_Digitalisierung_final.pdf

Drucker, P.F. (1987): Social innovation  Management’s new dimensionLong Range Planning, Volume 20, Issue 6, 1987, Pages 29-34

Oeij, P.R.A.; Dhondt, S.; McMurray, A.J. (Hrsg.) (2023): A Research Agenda for Workpace Innovation. The Challenge of Disruptive Transitions. Elgar Research Agendas: Cheltham (UK) /Northampton (USA)

Zum Weiterlesen

Hirsch-Kreinsen, H.; Ittermann, P.; Niehaus, J. (2018): Digitalisierung industrieller Arbeit. Die Vision Industrie 4.0 und ihre sozialen Herausforderungen. Nomos Verlag, Edition sigma: Baden-Baden

Howaldt, J.; Oeij, P.R.A.; Dhondt, S. (2016): Workplace Innovation and social innovation: an introduction. World Review of Entrepreneurship, Management and Sustainable Development, Vol 12, No 1. https://www.researchgate.net/profile/Peter-Oeij/publication/286453110_Workplace_innovation_and_social_innovation_An_introduction/links/573084f308aee022975c4384/Workplace-innovation-and-social-innovation-An-introduction.pdf

Schröer, A.; Blättel-Mink; Schröder, A.; Späte (Hrsg.) (2023): Soziale Innovationen in und von Organisationen. Sozialwissenschaftliche Studien zur Transformation von Organisation. Springer VS: Wiesbaden

Becke, G.; Bleses, P.; Goldmann, M. (2016) Soziale Innovationen – eine neue Perspektive für die Arbeitsforschung im Feld sozialer und gesundheitsbezogener Dienstleistungenhttps://www.researchgate.net/publication/301245068_Soziale_Innovationen_-_eine_neue_Perspektive_fur_die_Arbeitsforschung_im_Feld_sozialer_und_gesundheitsbezogener_Dienstleistungen

Ralf Kopp

Dr. Ralf Kopp

Koordination des Forschungsbereichs „Arbeit und Organisation im sozio-digitalen Wandel“ an der TU Dortmund / Sozialforschungsstelle