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Essen hat Impact: Soziale Innovationen verändern das Ernährungssystem   

19. November 2024

Wie ernähren wir uns und mit welchen Konsequenzen? Warum ist die Entscheidung was wir essen, so wichtig und wie können wir der Lebensmittelverschwendung entgegenwirken? Soziale Innovationen sind schon lange aktiv in diesem Bereich und haben einiges ins Rollen gebracht. Sie packen auf unterschiedlichen Ebenen Probleme an und helfen uns dabei handlungsfähig zu werden.  

Der Realitätscheck: Unser Ernährungssystem verursacht 37 % der globalen Treibhausgasemissionen. Hinzu kommen eine rapide schwindende Biodiversität, Bodenerosionen, übersäuerte Meere und sterbende Süßwassergewässer – um nur ein paar Auswirkungen zu nennen. Wissenschaftlich spricht man hier von planetaren Grenzen. Diese ökologischen Grenzen geben an, wie viel Belastung die Erde aushält, ohne dass wichtige Systeme kippen und dadurch unsere Lebensgrundlage gefährdet wird. Sechs von neun Grenzen sind bereits überschritten. 

Gleichzeitig leiden 733 Mio. Menschen täglich unter Hunger, während ein Teil der Weltbevölkerung zu viel oder ungesund isst und rund ein Drittel unserer Lebensmittel verschwendet werden. Die EAT-Lancet Kommission erklärt ungesunde Ernährung gesamtgesellschaftlich zu einem größeren Risiko für Morbidität und Sterblichkeit als ungeschützten Sex, Alkohol-, Drogen- und Tabakkonsum zusammen. 

So viel zu den Problemen. Doch wie kann eine gesunde und nachhaltige Ernährung diese Probleme lösen? Und wie können Soziale Innovationen dabei helfen? 

Wie bei so vielen gesellschaftlichen Herausforderungen müssen wir viele Hebel gleichzeitig ziehen: Lebensmittel retten, unser Produktionssystem ändern, unsere Ernährung umstellen. Genau diese Hebel wollen wir uns einmal genauer anschauen und Beispiele zeigen, wie es auch anders gehen kann. Denn wir alle essen, jeden Tag. Und jedes Mal treffen wir damit eine Entscheidung.  

 

Bildung i(s)st gesund

Wo kommen meine Lebensmittel her? Wie lange braucht es von der Blüte zum Apfel? Was passiert nach dem Ablaufen des Mindesthaltbarkeitsdatums und wie gesund sind Lebensmittel aus der Dose? 

Wer nicht weiß, wie Lebensmittel hergestellt werden, kann auch kein Verständnis für deren Wert aufbringen. Ein Grund für den unachtsamen Umgang mit den Lebensmitteln ist die Entfremdung von Mensch und Natur. Das Leben in (Groß-)Städten bringt automatisch eine Distanz zum Ursprung unserer Nahrung mit sich. Der beschleunigte Alltag befördert den Konsum von Fastfood und reduziert die Beschäftigung mit der eigenen Ernährung und allem, was damit zusammenhängt, somit auch den Wert, den Lebensmittel für unsere Gesundheit und unser Wohlbefinden haben.  

© Sabine Kunze

Insbesondere, wenn Kinder ohne Wissen darüber aufwachsen, wo ihr Gemüse und Obst herkommt und wie es entsteht, fehlt es an der Verbindung zu Nahrungsmitteln. Hier setzten sich Initiativen wie „WERTvoll macht Schule“ und „Zu gut für die Tonne“ ein. Sie möchten mit ihren Beiträgen Kinder, Jugendliche aber auch Erwachsene wieder für das Thema sensibilisieren und stellen Unterrichtsmaterialien bereit, geben Seminare und organisieren Events zu dem Thema. Acker e.V. geht noch einen Schritt weiter. Sie arbeiten unter anderem mit Landwirt:innen zusammen, die mit Kindern und Erzieher:innen Lernorte aufbauen. Das sind Orte, an denen sie gemeinsam ackern und pflanzen können. Die Sensibilisierung schafft nicht nur Wissen und Nähe zu den Lebensmitteln, sondern auch Gemeinschaft. Mittlerweile haben sie mit über 300.000 Kindern in allen Altersgruppen geackert und dabei 106.000 qm Ackerfläche an den Lernorten angelegt. Ihr Ziel ist es, bis 2030 jedes Kind in Deutschland erreicht zu haben. So erlernen Menschen wieder ein Verständnis für die Zeit und Mühen, die hinter dem Produzieren von Nahrungsmitteln stehen und steigern damit die Wertschätzung.  

Lebensmittelverschwendung und die Suche nach Lösungen – Retten hilft!

Die Verschwendung von Lebensmitteln ist weitreichend und hat immense Konsequenzen auf unser Zusammenleben weltweit. Allein in Deutschland sind es 11 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr. Am meisten wird in Privathaushalten von Städten weggeworfen. Im ländlichen Raum ist die Verschwendung wesentlich geringer. Gründe sind ein besseres Kreislaufsystem, wie die Möglichkeit zu kompostieren und Essensreste an Tiere zu verfüttern. 

© Canva

Soziale Innovationen haben hier schon vor 30 Jahren einen Stein ins Rollen gebracht. Die Tafeln sind mittlerweile die größte sozial-ökonomische Bewegung in Deutschland. Sie retten jährlich ca. 265.000 Tonnen Lebensmittel und verteilen sie mit ehrenamtlichen Mitarbeitenden deutschlandweit an bis zu 2 Millionen Bedürftige.  

Die vor 14 Jahren als kleine Bewegung in Berlin gestartete Initiative foodsharing e.V. befähigt Menschen selbst, Essen zu retten und zu verteilen. Hier können nicht „nur“ Bedürftige unverkaufte Waren erhalten, sondern alle die möchten. Freiwillige Foodsharer:innen erhalten einen vorgefertigten „Baukasten“ und Richtlinien (Hygienekonzept, etc.)  für die Rettung von Lebensmitteln und den Aufbau sogenannter Fairteiler. Das sind öffentliche Kühlschränke und Trockenschränke, in denen gerettete Lebensmittel, kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Die Foodsharer:innen vernetzen sich mit Restaurants, Bäckereien, Cafés und Kantinen und retten dort Übriggebliebenes. Mittlerweile gibt es 1133 Fairteiler in ganz Deutschland. Und auch Österreich und Schweiz sind Teil der Bewegung. Doch nicht allein das Retten ist Teil der Foodsharing-Bewegung. Um der Verschwendung langfristig entgegenzuwirken, bedarf es – wie oben bereits erwähnt – mehr praktische Bildung. Auch Foodsharing bietet Bildungsveranstaltungen, Seminare/Workshops über Kreislaufwirtschaft, das Restekochen und Einlagern von Lebensmitteln an.  

Da nicht nur in Haushalten, sondern auch in Supermärkten Unmengen an Produkten weggeworfen werden, wagte der Gründer von Foodsharing, Raphael Fellmer den nächsten Schritt. Er gründete 2017 mit SIRPLUS Supermärkte, die abgelaufene Lebensmittel oder nicht verkaufte Waren zu günstigeren Preisen verkaufen. Mittlerweile können die Produkte online und auch als Pakete („Retterboxen“) bestellt werden. Nach der Insolvenz Anfang 2024, gibt Raphael aber nicht auf. Er stellte das Sortiment um, holte einen weiteren Geschäftsführer ins Boot und startet nun die nächste große Aktion Zero Waste gegen Zero Hunger. Eine Initiative, mit dem Ziel die Hungersnot weltweit bis 2030 zu beenden. Pro verkaufter „Retterbox“ gehen Anteile als Spenden an eine Kooperation, die Schulmahlzeiten verteilt.  

Viele Organisationen, Initiativen, Restaurants, Supermärkte und Cafés schließen sich der Foodsaving-Bewegung an und geben Lebensmitteln wieder einen neuen Wert und sogar Lifestyle. Wer gerettetes Essen verarbeitet, ist im Trend. Rettergut verarbeitet Produkte, die als Abfälle oder Reste bei Produktionen gewertet werden, kauft sie und verarbeitet sie wieder weiter zu Pasten, Pestos, Suppen und vielem mehr. Das Social Impact Unternehmen Too Good To Go unterstützt Restaurants dabei ihre überschüssigen Lebensmittel weiterzugeben und hat eine App entwickelt, die überregional nach Standort teilnehmende Restaurants, Kantinen, Cafés etc. mit ihrem jeweiligen Angebot anzeigt. Die Gerichte können gegen einen wesentlich geringeren Betrag abgeholt werden. Mundraub hingegen möchte den Menschen wieder mit der Natur verbinden und hat eine Plattform entwickelt, die mittlerweile über 10.000 Fundorte essbarer Landschaft kartiert hat. Hier sind Obstwiesen und Sträucher eingetragen, die frei zur Verfügung stehen und für den eigenen Verzehr geerntet werden können.  

Wo kaufen wir ein?

Die Mehrheit der Deutschen kauft im Supermarkt und am liebsten alle Produkte im selben: einmal hin, alles drin, quasi. Oft fehlt hier jedoch Transparenz zum Beispiel über Herkunft oder Transportwege und Produzent:innen klagen über zu geringe Erzeugerpreise. Aber welche Alternativen gibt es? 

Eine Soziale Innovation, die es schon seit den 1980ern gibt, ist die Solidarische Landwirtschaft (Solawi). Genossenschaftlich organisiert bieten Solawis verschiedene Modelle an, um ihre Mitglieder mit Gemüse und anderen landwirtschaftlichen Produkten zu versorgen. Die Mitglieder sind Teil der Genossenschaft und erhalten somit einen Ernteanteil. Dabei wird Verpackung vermieden, Lebensmittelverschwendung reduziert und die Genossenschaft erhält Planungssicherheit und kann ihr Produkte zu fairen Preisen anbieten. Gleichzeitig bringen sie die Menschen beispielsweise mit gemeinsamen Ernteaktionen, wieder näher zu ihrer Region und an die Entstehung ihrer Lebensmittel. 

© Canva

CrowdFarming setzt auf auch auf Planungssicherheit für Produzent:innen. Kund:innen können hier zum Beispiel einen Apfelbaum adoptieren und erhalten das ganze Jahr über ihren Ernteanteil. Das vermeidet zusätzlich Lebensmittelverschwendung am Ursprungsort und sorgt für Transparenz, woher die Lebensmittel genau kommen.   

SuperCoop krempelt das gesamte (wirtschaftliche) Supermarktkonzept um und setzt auch hier auf Kooperation und Gemeinschaft. Das Konzept gibt es bereits in New York, Paris und Brüssel und nun auch in Berlin. Supercoop ist, wie der Name schon sagt, ein kooperativer, genossenschaftlich organisierter Supermarkt, der seinen Mitgliedern gehört. Jedes Mitglied arbeitet mit, stimmt mit ab und erhält einen transparenten Einblick in Produktion und Lieferung. Das Ziel ist gute, gesunde und fair produzierte Lebensmittel zu erschwinglichen Preisen anzubieten und Vertrauen, Ehrlichkeit und Respekt zwischen Produzent:innen, Lieferant:innen und den Mitgliedern zu schaffen.  

Um kürzere Produktionsketten entstehen zu lassen und die Direktvermarktung wieder in den Vordergrund zu stellen, bringt das Netzwerk der Marktschwärmer deutschlandweit Produzent:innen und Verbraucher:innen wieder miteinander in Kontakt. Online können Waren gewählt und bestellt und dann an einer Sammelstelle abgeholt werden. Die Produzent:innen erscheinen selbst und geben die Waren aus. Hierbei entstehen neben dem Kauf von frischen regionalen Produkten Gemeinschaften und ein lebendiger Austausch

Ernährung umstellen 

Die ungemütliche Nachricht zuerst: Ohne die Umstellung unserer Essgewohnheiten geht es nicht. Das heißt insbesondere, dass wir unseren Fleischkonsum reduzieren müssen. Die gute Nachricht: Genau so könnten wir es schaffen, 10 Mrd. Menschen gesund zu ernähren, das Krankheits- und Sterberisiko zu verringern und unser Ökosystem zu schützen. Die EAT-Lancet-Kommission hat daher die Planetary Health Diet entwickelt.

Die Planetary Health Diet ist eine Ernährungsweise, die sowohl gesund als auch sozial verträglich ist und unsere planetaren Grenzen einhält. Wissenschaftler:innen der EAT-Lancet-Kommission haben dabei eine Richtlinie erarbeitet, wie viel wir von welchen Lebensmitteln essen können. Vereinfacht gesagt bedeutet das für die deutsche Standardernährung: weniger Fleisch, mehr Gemüse und Obst und vor allem mehr pflanzliche Proteine aus Nüssen und Hülsenfrüchten

Aber womit sollen wir anfangen? Orientierung gibt auf spielerische Weise zum Beispiel die App Fork Ranger. Jeden Tag gibt es Rezepttipps und kleine Storys über unser Ernährungssystem, bei denen man herausfinden kann, was erste Schritte sind, oder wie unterschiedliche Lebensmittel auf der Nachhaltigkeitsskala abschneiden. 

Die Preise im Supermarkt spiegeln nicht die wahren Kosten für Lebensmittel wider. Denn Nachhaltigkeitsleistungen und -schäden werden nicht miteingerechnet. Organisationen wie zum Beispiel Regionalwert Research setzen sich deshalb für True Cost Accounting ein, um genau diese Faktoren in der Bilanz von Unternehmen sichtbar zu machen und Externalitäten einzurechen. 

Essen verbindet

© Canva

Essen ist so viel mehr als Klimakrise oder Gesundheit optimieren. Essen ist Genuss, Identität und vor allem eins: Gemeinschaft. Essen verbindet. Genau das nutzen Organisationen wie Über den Tellerrand. Sie schaffen seit 10 Jahren Räume, in denen sich Menschen verschiedener Kulturen begegnen können. Mittlerweile sind sie in 40 Städten mit Begegnungs- und Mentoringprogrammen aktiv. Auch LebensMittelPunkte verbinden Menschen miteinander: Nachbar:innen. Gemeinsam organisieren sie Angebote und Aktivitäten, die gesundes, regionales und gerettetes Essen für mehr Menschen zugänglich machen.  

Gemeinsam können wir etwas verändern! 

Unser derzeitiges Ernährungssystem ist Zeichen unserer Zeit. Auf Wirtschaftlichkeit, Wachstum und Masse ausgelegt. Dass das allerdings keine Zukunft hat, wird uns jeden Tag deutlich vor Augen gehalten.  

Um diesem unnatürlichen und lebensfeindlichen Modell entgegenzuwirken haben sich engagierte und motivierte Changemaker:innen auf den Weg gemacht. Ob das Retten von Lebensmitteln, die Umstellung unserer Ernährung, das Bilden unserer Kinder oder das Einkaufen in Genossenschaften. Soziale Innovationen sind allgegenwärtig im Ernährungsbereich und haben einiges bewegt. Sie vereint nicht nur der Wunsch nach gesunder Ernährung, sondern auch nach Gemeinschaft und Ganzheitlichkeit. Sie lassen verlorengegangene Werte wieder aufleben. Verbinden Menschen miteinander und mit der Natur und möchten den Blick auf Ernährung erweitern und schärfen. Essen ist viel mehr als Nahrungsaufnahme. Essen ist politisch. Genau deswegen ist es so wichtig, dass Politik, Wirtschaft und die Zivilgesellschaft an einem Strang ziehen, denn ohne Gesetzgebung und Anreize geht es nicht. Wenn wir alle gemeinsam wirken – können wir etwas bewegen und das Ruder vielleicht noch einmal umkehren und systemischen Wandel bewirken.

Mehr zu dem Thema gibt es in unserem nächsten Kunze+Kompliz:innen mit Raphael Fellmer von SIRPLUS und Foodsharing.  

Sabine

Sabine Kunze

Redakteurin bei der Plattform für Soziale Innovationen & Gemeinwohlorientierte Unternehmen

Laura

Laura Schneider

Kommunikation bei der Plattform für Soziale Innovationen & Gemeinwohlorientierte Unternehmen