Mit dem Netzwerk Wissenschaft richtet sich die Plattform für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen an wissenschaftliche Einrichtungen, die sich mit Sozialen Innovationen beschäftigen. Sowohl etablierte wie auch neue Akteur:innen sind eingeladen, sich auszutauschen, voneinander zu lernen und gemeinsam die Rolle der Wissenschaft im deutschen Ökosystem weiterzuentwickeln. Dieses Spotlight präsentiert nun Perspektiven aus der Praxis von Hochschulen. Das Team Wissenschaft hat dafür mit Prof. Dr. Gerald Beck und Prof. Dr. Wolfgang Gehra, zwei der Leitenden des Studiengangs Management Sozialer Innovationen an der Hochschule München gesprochen.
Im Fokus dieses Austauschs steht die sich verändernde Rolle von Hochschulen in Bezug auf Soziale Innovationen im Allgemeinen. Darüber hinaus diskutieren die Experten, wie die drei Missionen von Hochschulen (Lehre, Forschung und Transfer) im Verbund die Beteiligung von Hochschulen und wissenschaftlichen Einrichtungen an Sozialen Innovationen stärken können. Dabei geben die Interviewpartner Einblicke in den Praxisalltag und gehen auch auf die Rolle etwa von Lehrbüchern ein. Das Team Wissenschaft hat den beiden Experten die folgenden Fragen gestellt:
- Welche Rolle spielen Hochschulen bei der Entwicklung, Erprobung und Etablierung von Sozialen Innovationen?
- Beobachten Sie Veränderungen in der Hochschullandschaft, was die Bereitschaft zum transdisziplinären Engagement und konkret zur Beteiligung an Sozialen Innovationen betrifft?
- Wie können die drei Missionen von Hochschulen diesbezüglich noch stärker miteinander verbunden werden? Welche Erfahrungen haben Sie dazu in der Hochschule München und im Studiengang Management Sozialer Innovationen gemacht?
- Welche Rolle spielen dabei Lehrbücher? Wie können diese etwa zur Stärkung der Entwicklung, Erprobung und Etablierung von Sozialen Innovationen beitragen?
Gerald Beck und Wolfgang Gehra leiten mit anderen Kolleg:innen den Studiengang Management Sozialer Innovationen, in dem künftige Manager:innen Sozialer Innovationen ausgebildet werden, die gesellschaftliche Handlungsbedarfe erkennen, soziale Innovationsprozesse anregen und diese fachlich, organisatorisch und beteiligungsorientiert begleiten sollen.
1. Welche Rolle spielen Hochschulen bei der Entwicklung, Erprobung und Etablierung von Sozialen Innovationen?
2007 wurde genau dafür der Studiengang Management Sozialer Innovationen (B.A. MSI) an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München ins Leben gerufen. Unsere MSI-Studierenden werden interdisziplinär qualifiziert als Change Agents der Zukunft. Sie lernen gesellschaftliche Handlungsbedarfe zu erkennen, um auf dieser Grundlage soziale Innovationsprozesse anzuregen, diese fachlich und organisatorisch zu begleiten, beteiligungsorientiert zu steuern und ganzheitlich zu evaluieren. Wir verstehen uns dabei weniger als Inkubator, sondern mehr als Petrischale. Das heißt, wir bereiten den Nährboden und geben Impulse zum Start von Initiativen. Die Lehre erfolgt sowohl theoretisch fundiert als auch in Veranstaltungsformaten zusammen mit Praxispartnern. Hilfreich sind dabei auch die engen Kooperationen mit dem Strascheg Center for Entrepreneurship, der Social Entrepreneurship Akademie und verschiedenen Stiftungen. Nicht zuletzt aufgrund der für eine Hochschule für Angewandte Wissenschaften (HAW) typischen Anwendungsorientierung und der Einbindung von Lehrbeauftragten aus Unternehmen, sind unsere Absolvent:innen, die mittlerweile ein weites und breites Netzwerk bilden, oft in Veränderungsinitiativen unterwegs. Sei es als (Mit-)Gründer:innen von (Social) Startups, als Intrapreneur:innen oder in qualifizierten, manchmal auch schon in leitenden Positionen von Organisationen in allen Sektoren, zivilgesellschaftlich, unternehmerisch oder im öffentlichen Bereich.
Insofern spielen Studiengänge, wie MSI oder auch unser Masterstudiengang „Gesellschaftlicher Wandel als Gestaltungsaufgabe“, zusammen mit einem förderlichen Netzwerk eine wichtige Rolle, um Soziale Innovationen zu entwickeln, zu erproben und letztlich zu etablieren. Kollektives, kreatives, interdisziplinäres und intersektorales Experimentieren kann hier gelernt und erfahren werden, um im Anschluss Soziale Innovationen mit verschiedenen Akteuren und an verschiedenen Orten weiterzuentwickeln.
Daher wären mehr Studiengänge in dieser Form wünschenswert.
2. Beobachten Sie Veränderungen in der Hochschullandschaft, was die Bereitschaft zum transdisziplinären Engagement und konkret zur Beteiligung an Sozialen Innovationen betrifft?
Das transdisziplinäre Forschungsparadigma hat es zwar nach wie vor schwer, findet insgesamt aber mehr und mehr Verbreitung. In unserem bayrischen Forschungsverbund zur Zukunft der Demokratie „ForDemocracy“ wurde beispielsweise in mehreren Teilprojekten sowohl partizipativ als auch transdisziplinär geforscht und das war von Anfang an auch vom Fördergeber so gewollt. Mit der tdCommunity und der GTPF (Gesellschaft für transdisziplinäre und partizipative Forschung e.V.) haben sich jüngst Netzwerke für transdisziplinär Forschende etabliert. Es tut sich also einiges in dem Bereich.
Wenn transdisziplinäre Forschung mit dem Anspruch ausgestattet wird, gesellschaftliche Transformationen zu begleiten und zu gestalten, dann kommen automatisch Soziale Innovationen ins Spiel. Unserer Beobachtung nach kommt das Thema immer stärker in den Hochschulen an. Kritisch aus der Perspektive Sozialer Innovation ist der starke Fokus auf Social Entrepreneurship einiger Hochschulen, der dazu führen kann, dass zivilgesellschaftlich getriebene Soziale Innovationen aus dem Blick geraten und es sogar schwerer haben, sich zu etablieren. Denn diese Sozialen Innovationen funktionieren nach anderen Logiken als businessgetriebenes Entrepreneurship. Es geht mehr um Kooperationsprojekte mit Kommunen zu Stadt- und Regionalentwicklung, Klimaschutz und Demokratie. Soziale Innovationen und Social Entrepreneurship sollten gleichberechtigte Ansätze sein und unterschieden werden.
Es ist in der Politik auf kommunaler Ebene angekommen, dass die großen Herausforderungen nur in Kooperation mit einer aktiven Zivilgesellschaft gelöst werden können. Hochschulen können hier begleitend oder initiierend tätig werden. Gleichwohl ist es wichtig, die Prozesse so anzulegen, dass sich Hochschulen auch wieder zurückziehen können, ohne dass die Prozesse dann zum Erliegen kommen.
Auf der Ebene von Studiengängen lässt sich beobachten, dass in immer mehr Studiengängen Praxisprojekte etabliert werden und Soziale Innovationen thematisiert werden. Das führt dazu, dass die Studierenden, die im Studium erworbenen Kompetenzen schon sehr früh in der Praxis ausprobieren und entwickeln können.
3. Wie können die drei Missionen von Hochschulen diesbezüglich noch stärker miteinander verbunden werden? Welche Erfahrungen haben Sie dazu in der Hochschule München und im Studiengang Management Sozialer Innovationen gemacht?
Das Potenzial ist riesig und es gibt auch Beispiele, bei denen die drei Missionen Hand in Hand gehen. Aber insgesamt ist die Ausstattung beispielsweise für Professor:innen an Hochschulen für Angewandte Wissenschaften bei 18 Semesterwochenstunden Lehrdeputat nicht geeignet, die drei Bälle gleichzeitig in der Luft zu halten. Trotzdem können zwei gelungene Beispiele genannt werden:
a) Die Forschungsaktivitäten von Gerald Beck zu Commoning haben dazu geführt, dass das Thema auch stärker in der Lehre im Studiengang Management Sozialer Innovationen und im Master Gesellschaftlicher Wandel als Gestaltungsaufgabe behandelt wird. Dadurch wurden Studierende für alternative Formen des Umgangs mit Gütern sensibilisiert. Aus verschiedenen Projektseminaren heraus haben Studierende dann die Idee von freien Lastenrädern erarbeitet und konnten dabei den Kern als Commoning-Initiative bewahren. Inzwischen verwaltet der daraus gegründete Verein mehr als 20 frei zugängliche Lastenräder in München und Kommunen lassen sich von dem Gründungsteam zu Fragen der Mobilitätswende beraten.
b) Ein Teilprojekt im oben genannten Forschungsverbund entwickelte zusammen mit Partnern aus der Zivilgesellschaft ein Beteiligungsformat mit dem Titel „Demokratiecafé“. Das Demokratiecafé ist eine Soziale Innovation in der Demokratie, die sich stark an der Idee des Repair Cafés anlehnt. Anstatt Dinge werden aber Anliegen aus dem eigenen Lebensumfeld „repariert“. Auch hier ist der Transfer gelungen, denn Dr. Robert Jende, der das Teilprojekt bei uns als wissenschaftlicher Mitarbeiter begleitet hat, ist mittlerweile zur anstiftung gewechselt und baut dort ein deutschlandweites Netzwerk für Demokratiecafés auf. Das Demokratiecafé hat auch den Weg zurück zu seinem Ursprung gefunden, denn wir etablieren es in diesem Semester am Campus als Format zur studentischen Beteiligung.
Das sind für uns zwei gute Beispiele für Transfererfolge von Sozialen Innovationen bei denen Lehre, Forschung und Transfer Hand in Hand gehen. Gleichzeitig würden sie nach den geltenden Kriterien für Transfer zumindest in Bayern nicht gezählt werden, da hier nur die Gründung einer GmbH oder AG gilt. Dieser einseitige Blick auf Transfer ist in Bezug auf Soziale Innovation nicht mehr zeitgemäß und müsste dringend überarbeitet werden.
4. Welche Rolle spielen dabei Lehrbücher? Wie können diese etwa zur Stärkung der Entwicklung, Erprobung und Etablierung von Sozialen Innovationen beitragen?
Insgesamt zeigen Publikationen, dass wir fundiert arbeiten. Die Publikationen sind wichtig für die Dokumentation des Theorie-Praxis-Transfers und das Teilen von Erkenntnissen mit der wissenschaftlichen Community.
Artikel wie beispielsweise von Gerald Beck und Robert Jende (2024) oder der Sammelband, herausgegeben von Mitgliedern der Studiengangsleitung in MSI (2020) zeigen den Studierenden, den Praxispartnern und dem Ökosystem die Verbindung zwischen Theorie und Praxis sowie die Reflexion von Sozialen Innovationen auf verschiedenen Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven von verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen.
Dazu kommen Bücher wie das vor kurzem erschienene Werk „Social Entrepreneurship“ von Wolfgang Gehra (2023). Als Einstieg und Überblick führt dieses Buch wie ein Lotse durch das in rasantem Wandel befindliche Phänomen Social Entrepreneurship. Neben einer thematischen Einführung navigiert es durch Gründungsphasen, Rechtsformen, Wirkungsmessung und Finanzierung. Auch die Felder Social Intrapreneurship und Education werden beleuchtet. Eine kritische Perspektive rundet das Bild ab. Nicht zuletzt erhalten die Leser:innen mit Einblicken ins Netzwerk und ausgewählten Beispielen einen breitgefächerten Zugang und insgesamt ein besseres Verständnis für unternehmerisches Handeln im gesellschaftlichen Kontext. Zusätzlich zu handlungsorientierten Kursen erhalten Studierende dadurch vertiefte und fundierte Hintergründe zu einer Ausdrucksform von Sozialen Innovationen. An einigen Universitäten und Hochschulen wird dieses Buch bereits zur Standardliteratur empfohlen. Gleichzeitig hilft derartige Literatur, einem interessierten Ökosystem, wie Banken, Behörden und Beratenden, den Zugang, das Verständnis und damit der Verbreitung von Sozialen Innovationen zu erleichtern.
Experten
Prof. Dr. Gerald Beck ist Soziologe und unterrichtet an der Hochschule München Soziale Innovation und Organisationsentwicklung. Er ist Prodekan der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften und Mitglied der Studiengangsleitungen für den Bachelorstudiengang Management Sozialer Innovationen und den Masterstudiengang Gesellschaftlicher Wandel als Gestaltungsaufgabe. In der Forschung beschäftigt er sich mit Sozialen Innovationen, Commons, Demokratie und Kontroversen im Rahmen der sozial-ökologischen Transformation.
Prof. Dr. Wolfgang Gehra, Diplom-Kaufmann, ist seit 2014 Professor für Sozialmanagement an der Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften der Hochschule München. Seit 2021 ist er zusätzlich Innovationsprofessor für Entrepreneurship und Innovation. Seine Expertise für innovative Veränderungsprozesse in Organisationen und Gesellschaft beruht auch auf 20 Jahren Managementerfahrung. Er war als mittelständischer Unternehmer und in leitenden Positionen sowohl im Profit als auch im Nonprofit Bereich tätig. Zudem war er langjähriger Stiftungsvorstand und ist Mitglied in diversen Bei- und Aufsichtsräten sowie in regelmäßigen Beratungs- und Coachingmandaten engagiert. In seiner Eigenschaft als Mitgründer der ALMSE Akademie gGmbH ist er selbst Social Entrepreneur und unterstützt die Vision, Social Entrepreneurship an Schulen zu implementieren. Der Fokus auf unternehmerisches Handeln im sozialen und ökologischen Kontext bildet somit sowohl Erfahrungshintergrund als auch Forschungsinteresse.
Literaturempfehlungen
Jende, R. & Beck, G. (2024): Das Demokratiecafé: If you can’t fix it, you don’t own it! Ökologisches Wirtschaften, 30, 37-41.
Franz, H.-W., Beck, G., Compagna, D., Dürr, P., Gehra, W., Wegner, M. (Hrsg., 2020): Nachhaltig Leben und Wirtschaften. Management sozialer Innovationen als Gestaltung gesellschaftlicher Transformation. Wiesbaden. Springer VS.
Gehra, W. (2023): Social Entrepreneurship. Nomos Verlag. ISBN 978-3-8487-8880-4. https://www.nomos-shop.de/nomos/titel/social-entrepreneurship-id-103578/