Weltweit sind wissenschaftliche Einrichtungen aktiver Teil von Ökosystemen Sozialer Innovationen. Sie forschen zu Gelingensbedingungen und Wirkungsansätzen, sie vermitteln Wissen und Kompetenzen rund um Soziale Innovationen und sie beteiligen sich mit vielfältigen Aktivitäten an der praktischen Umsetzung Sozialer Innovationen. Sie unterstützen Sozialinnovator:innen im Rahmen von Transferarbeit und co-kreativer Ansätze, sie bauen Innovationslabore auf, fördern Ausgründungen, betreuen Inkubatoren oder bringen sich in Preisverleihungen ein. SozialMarie ist der wohl renommierteste Preis für Soziale Innovationen, der seit 2004 jedes Jahr am 1. Mai an 15 herausragenden Projekte in Österreich, Ungarn, Tschechien, der Slowakei, Kroatien und Slowenien (den sog. CEE-Staaten) vergeben wird. Das ZSI (Zentrum für Soziale Innovation) als anwendungsorientiertes sozialwissenschaftliches Institut und die SozialMarie verbindet eine langjährige Beziehung. Sie eint das Ziel, zur Verbreitung und Anerkennung von Sozialer Innovation beizutragen. 2024 feierte der Preis sein 20-jähriges Bestehen. Vor diesem Hintergrund richtet sich das aktuelle Spotlight auf ein Interview mit Barbara Glinsner, die den Bereich „Arbeit & Chancengleichheit“ am ZSI leitet und einige Jahre als Evaluatorin der SozialMarie tätig war sowie mit Wanda Moser-Heindl, Gründerin der SozialMarie.
Wie kam es überhaupt dazu, dass die SozialMarie ins Leben gerufen wurde?
Barbara Glinsner: Das geht auf die Initiative von Wanda Moser-Heindl und ihres Mannes Friedrich Moser zurück. Anfang 2000 riefen sie die Unruhe Privatstiftung ins Leben. Zweck der Stiftung ist die unmittelbare Förderung von Kunst, Wissenschaft, Forschung und Innovation, die Planung und Durchführung von Seminaren, Kongressen und Versammlungen, sowie die Veröffentlichung von Erkenntnissen und Werken mit sozialpolitischem, innovatorischem, wissenschaftlichem und künstlerischem Inhalt. Vor diesem Hintergrund entstand 2004 die SozialMarie, ein Preis für Soziale Innovationen. Die SozialMarie ist damit der erste und älteste Preis für Soziale Innovation. Mit einem Teil des erwirtschafteten Gewinns zeichnen sie bereits umgesetzte sozial-innovative Projekte in mittlerweile sechs Ländern aus: Österreich, Ungarn, Slowakei, Slowenien, Kroatien und Tschechien.
Wanda Moser-Heindl: Im Jahr 2004 lag der gesellschaftliche Fokus vor allem auf technischer Innovation. Doch technische Neuerungen haben immer auch soziale Auswirkungen. Deshalb wollten wir einen Preis ins Leben rufen, der diesen Aspekt würdigt.
Wieso eigentlich „SozialMarie“, wofür steht der Name? Was symbolisiert das Logo?
Alle Projekte haben eine soziale Dimension, da sie direkt mit Menschen arbeiten. Der Name Marie ist in allen sechs Ländern weit verbreitet. Das Logo stellt die SozialMarie-Statue dar und symbolisiert ihre Bedeutung.

© Jonas Matassy, SozialMarie 2024
Wofür steht das ZSI, und warum beteiligt sich das Institut an der Preisverleihung?
Barbara Glinsner: Das ZSI ist ein außeruniversitäres Non-Profit- Institut für angewandte Sozialwissenschaften. In unterschiedlichen Projekten untersuchen wir die gesellschaftliche Einbettung und Wirkung von Innovation und tragen zur Gestaltung und Verbreitung von sozialverträglichen und nachhaltigen Innovationen zur Bewältigung von globalen Herausforderungen bei.
Die Beziehung zwischen dem ZSI und der SozialMarie reicht lange zurück, denn der ZSI-Gründer Josef Hochgerner war lange Jury-Mitglied und hat die Kriterien Sozialer Innovation mit entwickelt. Zudem waren meine Kollegin Stella Wolter und ich als Evaluator:innen der eingereichten Projekte tätig.
Welche in den vergangenen Jahren ausgezeichnete Initiative kommt Ihnen als erstes in den Sinn, wenn Sie an den SozialMarie-Preis denken?
Barbara Glinsner: Mir fällt als erstes die IG24 ein. Die IG24 ist ein selbstorganisierter und überparteilicher Verband, der die Interessen von 24-Stunden-Personenbetreuer:innen in Österreich vertritt und zu einer sehr aktiven und starken Stimme in der Politik geworden ist. Die IG24 entstand aus der Community heraus durch den Zusammenschluss slowakischer Betreuer:innen und den Zusammenschluss rumänischer Betreuer:innen, also direkt aus dem Kreis der Betroffenen und Aktivitist:innen heraus. Außerdem nahmen sie sich einer sehr dringenden gesellschaftlichen Herausforderung an, nämlich, dass die 24-Stunden-Betreuung in Österreich überwiegend von Frauen aus mittel- und osteuropäischen Ländern (Österreich, Polen, Slowakei, Tschechische Republik, Ukraine, Ungarn) geleistet wird, diese aber wenig Rechte und de facto bisher keine Mitsprache und Vertretung im österreichischen Pflege- und Gesundheitssystem bzw. in der Gesundheitspolitik haben.
Wanda Moser-Heindl: Einprägsam ist natürlich immer der Hauptpreis. Der erste Preis des letzten Jahres war Housing First Austria – Ankommen zu Hause (HFÖ). Die Idee dahinter ist, dass Obdachlosigkeit mit einem Zuhause enden soll. Die Begünstigten von HFÖ ziehen direkt in eine bezahlbare Wohnung mit eigenem Mietvertrag. Sozialarbeiter:innen unterstützen sie während des gesamten Prozesses. Die erforderlichen Vorlaufkosten, Kautionen, Umzugskosten und Sozialarbeit werden aus Projektmitteln gedeckt. HFÖ löst Obdachlosigkeit durch Eingliederung in den Wohnungsmarkt und macht bezahlbaren Wohnraum für diejenigen zugänglich, die ihn am dringendsten benötigen.
„Die Welt bleibt nicht stehen, Strukturen ändern sich und Bewegung ist wohl das, was die Welt im Inneren zusammenhält. Unsere Gesellschaft, unsere Welt, ist immer in Bewegung und Stagnation hat keinen Platz – die Frage ist nur, wohin bewegt man sich. Das trifft auch auf soziale Themen zu. Mit der Sozialmarie werden wichtige und innovative Herangehensweisen ins Rampenlicht gerückt. Ich freue mich sehr den Ehrenschutz übernehmen zu dürfen und bin gespannt auf die Projekte. Gesellschaftliche Veränderung findet statt. Wir dürfen nicht vergessen, dass wir Handlungsmacht haben und mitwirken können, um unsere Welt nachhaltig zu einem besseren Ort zu machen.“
Yasmo, Jasmin Hafdeh, SozialMarie Patron 2022
Was sind die Gemeinsamkeiten der ausgezeichneten Projekte, und welche Bedeutung haben sie für die Gesellschaft?
Barbara Glinsner: Ganz einfach ausgedrückt wollen die ausgezeichneten sowie auch die eingereichten Projekte in Summe etwas in der Gesellschaft besser machen als bisher. Für die Gesellschaft sind solche Initiativen sehr wertvoll, weil sie erstens aktiv dazu beitragen, gesellschaftliche Herausforderungen zu erkennen und anzugehen und weil sie zweitens mit innovativen und kreativen Ansätzen experimentieren. An den Einreichungen für die SozialMarie kann man erkennen, wie viele Menschen sich dafür engagieren, die Gesellschaft inklusiver, fairer, innovativer und ökologischer zu machen. Das ist immer wieder beeindruckend.
Wanda Moser-Heindl: Innovative Projekte dienen als Vorbilder für andere, die an ähnlichen Themen arbeiten. Sie sind nachahmenswert, weil sie bereits erprobte Lösungen entwickelt haben, die übernommen und weitergeführt werden können. Solche mutigen Initiativen verdienen Anerkennung und Unterstützung. Zudem fördern sie den Austausch und die Vernetzung engagierter Menschen, wodurch wertvolle Verbindungen entstehen und gemeinsames Lernen ermöglicht wird.
Wie viele Projekte bewerben sich jährlich und wie werden sie bewertet? Was muss eine Initiative mitbringen, um ganz vorn zu landen?
Barbara Glinsner: Die Projekte werden nach vier unterschiedlichen Kriterien bewertet. Erstens müssen sie neu sein und sich einer gesellschaftlichen Herausforderung annehmen, die bisher wenig Beachtung fand. Zweitens sollen sie innovativ im Umgang mit der Zielgruppe sein. Wichtig ist, dass die Projekte ihrer Zielgruppe eine aktive Rolle einräumen, diese einbinden und im Idealfall „empowern“. Drittens sollen Projekt innovativ in ihrer Umsetzung sein, das sehen wir daran, dass die Projekte auf gewisse Art und Weise kreativ sind, gute Wirkungen erzeugen, auf sich verändernde Anforderungen reagieren und die Zusammenarbeit von unterschiedlichen Akteur:innen fördern. Viertens sollen Projekte innovativ in ihrer Außenwirkung sein. Bei diesem Kriterium achten wir darauf, wie das Umfeld auf die Innovation reagiert und dass sich die Innovation transferieren lässt.
Projekte, die besonders positiv bewertet werden, erfüllen alle Kriterien in hohem oder außergewöhnlichem Maß. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen ein oder zwei Aspekte so innovativ sind, dass sie geringere Innovationskraft in anderen Bereichen ausgleichen.
Wanda Moser-Heindl: Uns erreichen jährlich zwischen 200 und 400 Einreichungen von Projekten, in den letzten Jahren steigen die Einreichungen. Unsere Jury bewertet die Projekte anhand eines Fragenkatalogs zu den vier Kriterien, um ihre Innovationskraft zu bestimmen. Insgesamt vergeben wir 15 Preise, wobei die Verständlichkeit und Nachvollziehbarkeit der Innovationsbeschreibung eine entscheidende Rolle spielt. Diese Arbeit hat uns einen sehr wertvollen Einblick in sehr unterschiedliche sozial-innovative Initiativen gewährt.

© Jonas Matassy, SozialMarie 2024
Gab es in den 20 Jahren der Preisvergabe so etwas wie Themenkonjunkturen? Ändern sich die „großen Ziele“ der Initiativen über die Zeit?
Wanda Moser-Heindl: Die eingereichten Projekte orientieren sich häufig an aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, jedoch mit einer Verzögerung von etwa zwei Jahren. So entstanden beispielsweise innovative Ansätze für Geflüchtete erst zwei Jahre nach den großen Fluchtbewegungen. In diesem Jahr stehen viele Projekte im Zusammenhang mit den psychischen Herausforderungen von Jugendlichen, die als Folge der Pandemie sichtbar werden. In den vergangenen Jahren lag der Fokus verstärkt auf Themen wie Klimawandel und Digitalisierung.

© Jonas Matassy, SozialMarie 2024

© Jonas Matassy, SozialMarie 2024
Können Sie uns Begegnungen schildern, die Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben sind?
Wanda Moser-Heindl: Der 1. Mai ist stets ein besonderer Tag, an dem alle nominierten Projekte zusammenkommen. Zusätzlich laden wir regelmäßig frühere Gewinnerprojekte ein oder treffen uns mit ihnen, um mehr über ihre Fortschritte zu erfahren. Es ist immer spannend zu sehen, wie sich die Projekte innovativ weiterentwickeln.
Barbara Glinsner: Da ich während Corona evaluiert habe, gab es leider wenig persönliche Begegnungen. Die Freude der Gewinner:innen bei der Online-Preisverleihung war jedoch auch über die Videoscreens deutlich spürbar.
Wie geht weiter mit SozialMarie? Ist der Fortbestand gesichert?
Wanda Moser-Heindl: Wir haben auf jeden Fall noch vier Jahre in dieser Form geplant. Es ist jedoch möglich, dass wir darüber hinaus weitermachen oder sich aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen neue Herausforderungen ergeben, die wir derzeit noch nicht absehen können. Wir werden in jedem Fall wachsam bleiben und aktuelle Themen im Blick behalten.

Barbara Glinsner, Leiterin des Bereichs „Arbeit & Chancengleichheit“ am ZSI und ehemals Evaluatorin der SozialMarie.
©Foto: Zentrum für Soziale Innovation

Wanda Moser-Heindl, Gründerin der SozialMarie.
©Foto: Jonas Matyassy
Informative Broschüre: https://sozialmarie.org/assets/media/sozialmarie_boschure_2024.pdf