Einige Menschen dürften sich verwundert die Augen gerieben haben: Ärztliche Beratung und Behandlung komplett per Video-Sprechstunde? Kann das funktionieren? Und fehlt durch den ausbleibenden persönlichen Kontakt nicht eine ganz wesentliche Komponente medizinischer Behandlungen?
Vielleicht.
Vielleicht aber auch nicht.
Im Spätherbst des Jahres 2017 startete in Baden-Württemberg ein Modellprojekt, in dem die medizinische Fernbehandlung erprobt werden sollte. Was rein technisch gesehen schon seit Jahren problemlos möglich war, musste damals mit einigem Fingerspitzengefühl angegangen werden. Zwar gab es in anderen Ländern bereits Anbieter für Telemedizin, beispielsweise in der Schweiz – in Deutschland war dieses Feld jedoch noch stark eingeschränkt. Dass das Projekt dennoch durchgeführt werden konnte, war einer Änderung der Berufsordnung der Landesärztekammer Baden-Württemberg zu verdanken. Sie schuf den Rahmen für eine zweijährige Erprobung.
In diesem Beitrag soll es nicht um das Für und Wider ärztlicher Fernbehandlung gehen. Ich möchte den Blick auf etwas anderes lenken, nämlich auf den Grundgedanken hinter dem Projekt: Da ist eine Idee, eine Innovation, von der wir noch nicht wissen, ob sie auch in der Praxis funktioniert. Und wie sieht es eigentlich rechtlich aus?
Lasst es uns ausprobieren!
Und schon haben wir ein Reallabor.
Na gut, ganz so einfach ist es nicht. Aber was sind Reallabore eigentlich? Wie funktionieren sie, was können sie, wofür sind sie nützlich? Auf diese Fragen will ich versuchen, einige Antworten zu geben. Außerdem möchte ich zeigen, wie vielfältig Reallabore sind und welche Rolle sie in der Innovationspolitik spielen. Denn so viel sei schon mal verraten: Da tut sich so einiges!
Was sind Reallabore und was zeichnet sie aus?
Der Begriff „Reallabor“ kommt ursprünglich aus der Wissenschaft, speziell der Nachhaltigkeitsforschung, und bezeichnet dort einen experimentellen Forschungsansatz an der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Gesellschaft. In einfachen Worten: Raus aus dem Labor, rein in die reale Umgebung mit (nicht mehr kontrollierten) Umwelteinflüssen. International ist in diesem Zusammenhang häufig die Rede von „Transition Labs“ (Übergangslabore) oder „Living Labs“ (Lebendige Labore), gelegentlich erweitert um das Attribut „Urban“.
In den letzten Jahren hat sich das Konzept der Reallabore immer weiter verbreitet und umfasst inzwischen zahlreiche kooperative und ko-kreative Formate – wahlweise mit Fokus auf soziale Praktiken, gesetzliche Rahmenbedingungen oder bestimmte Akteurskonstellationen (Wissenschaft, Industrie, Konsument:innen). Häufig wird dabei ein sehr breiter Innovationsbegriff zugrunde gelegt, der sowohl technische Neuerungen umfasst als auch veränderte Organisationsformen, neue Verfahren und Konzepte sowie soziale Aspekte. Die „eine“ Definition von Reallaboren gibt es also nicht.
Um trotzdem ein gemeinsames Begriffsverständnis zu schaffen, möchte ich im Weiteren auf den Definitionsvorschlag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz (BMWK) zurückgreifen, das sich ebenfalls seit einigen Jahren mit Reallaboren befasst (mehr dazu weiter unten). Das BMWK versteht Reallabore als „Testräume für Innovation und Regulierung“:
„Unter einem Reallabor verstehen wir einen zeitlich und oft räumlich oder sachlich begrenzten Testraum, in dem innovative Technologien oder Geschäftsmodelle unter realen Bedingungen erprobt werden. Reallabore erfordern oftmals Ausnahmegenehmigungen oder die Nutzung von Experimentierklauseln und liefern wichtige Erkenntnisse, ob und wie der rechtliche Rahmen weiterentwickelt werden muss.“
In der Praxis werden die meisten Reallabore von größeren Konsortien aus Unternehmen, Hochschulen/Forschungseinrichtungen, Genehmigungsbehörden, zivilgesellschaftlichen Initiativen und lokaler Verwaltung durchgeführt. Wie das konkret aussehen kann, möchte ich an zwei Beispielen illustrieren:
Beispiel 1: Reallabor Digitized Circular Economy
Worum geht es?
Im „Reallabor Digitized Circular Economy“ (Reallabor Digitalisierte Kreislaufwirtschaft) erprobt ein Konsortium unter Federführung des Center for Digital Technologies der TU Clausthal neue Konzepte aus der Digitalisierung zur Stärkung der Kreislaufwirtschaft. Dabei werden unterschiedliche Projekte und Experimente im realen Umfeld und unter Einbezug der Bevölkerung durchgeführt, die auf den ökologischen und nachhaltigen Umgang mit Ressourcen und Produkten abzielen. Dazu zählen unter anderem:
- der Aufbau von Sharing-Boxen (vergleichbar mit Packstationen), um Gegenstände wie zum Beispiel Werkzeug zu teilen, zur Reparatur zu geben oder zu verkaufen;
- eine privat organisierte On-Demand-Abholung von Elektrogeräten;
- die Wiederbelebung von Reparaturcafés.
Im Reallabor wird großer Wert daraufgelegt, alle Zielgruppen zu erreichen, indem beispielsweise Workshops in Schulen und Altenheimen durchgeführt werden. Teilnehmende an Experimenten können „Eco Points“ in einer App sammeln, die als Rabattpunkte für kommerzielle Reparaturen oder den Kauf von Gebrauchtgeräten genutzt werden können. Das im Februar 2022 gestartete Reallabor ist in der Harzregion in und um Goslar und Clausthal-Zellerfeld angesiedelt. Entstanden ist es aus einem regionalen Netzwerk aus Kommunalpolitik, Wirtschaft, Gesellschaft und Forschung.
Wo liegen rechtliche Grenzen und inwiefern werden Erkenntnisse über die Weiterentwicklung des Rechtsrahmen geliefert („regulatorisches Lernen“)?
Für einzelne Projekte werden Ausnahmegenehmigungen benötigt, etwa im Bereich der Produkthaftung oder für die Sammlung von Elektrogeräten durch Privatpersonen, da dies laut Abfallgesetz Kommunen vorbehalten ist. Ferner können aus den Experimenten Erkenntnisse zur Zertifizierung von Dienstleistungen der Circular Economy sowie zur regulatorischen Organisation der Projektvorhaben und Genehmigungen gezogen werden – beispielsweise hinsichtlich der Zusammenarbeit von Plattformbetreibern und Nutzerinnen und Nutzern des Reallabors.
Welchen Beitrag leistet das Reallabor für Gesellschaft und Nachhaltigkeit?
Das Reallabor als übergeordnetes Konstrukt und die einzelnen zu erprobenden Innovationen zahlen auf den Transformationsbereich der Kreislaufwirtschaft ein. Dabei soll das Prinzip der Circular Economy nicht nur technologisch, sondern auch gesellschaftlich etabliert werden: Die Lebensdauer und aktiven Nutzungsphasen von Produkten sollen verlängert, Reparatur und Sammelquoten erhöht und Sharing-Konzepte ausgebaut werden. Das übergeordnete Ziel besteht darin, Konsumgewohnheiten grundlegend und nachhaltig zu ändern.
Weiterführende Informationen: https://www.digit-research.de/reallabor-dce
Beispiel 2: REAKT – innovativer Schienenverkehr auf stillgelegten Schienenstrecken in ländlichen Regionen
Worum geht es?
Im Reallabor „REAKT“ will die gleichnamige Forschungsinitiative neuartige Schienenfahrzeuge und Streckenkonzepte testen, mit denen stillgelegte Schienenstrecken reaktiviert werden könnten. So soll zum Beispiel untersucht werden, wie auf eingleisigen Strecken mit autonomen Fahrzeugen on-demand Begegnungsverkehr realisiert werden kann. Daneben werden neuartige Konzepte für Bahnübergänge, Stellwerke und Bahnsteige erprobt, die auf digitalen Technologien und moderner Sensorik basieren. Erstes Testgebiet ist die 17 km lange Strecke Malente – Lütjenburg in Schleswig-Holstein nahe der Ostseeküste. Im Reallabor sollen die technische Machbarkeit und die Wirtschaftlichkeit der Technologien nachgewiesen werden. Hervorgegangen ist das Reallabor aus dem 2020 gegründeten Verein Schienenverkehr Malente-Lütjenburg e.V. (SML) und der sich aus dem Beirat Bahntechnik Schleswig-Holstein heraus entwickelten REAKT-Forschungsinitiative, welche ein großes Netzwerk aus Hochschulen, Industriepartnern, Kommunen und Verbänden beinhaltet. Ab 2025 wird die Entwicklung der REAKT-Innovationscommunity durch das BMBF unterstützt, als eine von zwanzig Innovations-Communities unter knapp 500 Bewerbungen. Die Federführung liegt bei der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU).
Wo liegen rechtliche Grenzen und inwiefern werden Erkenntnisse über die Weiterentwicklung des Rechtsrahmen geliefert („regulatorisches Lernen“)?
Für die erste Erprobungsstufe ohne regulären Personenverkehr bestehen Spielräume, da die Strecke stillgelegt, aber noch nach Eisenbahnrecht als öffentliche Eisenbahninfrastruktur gewidmet ist. Mit Beginn erster Personenmitnahmen und regulärer Personenverkehre sind voraussichtlich Ausnahmegenehmigungen erforderlich. Relevante Rechtsrahmen sind die Eisenbahn-Bau und Betriebsordnung (EBO) und die Straßenbahn-Bau und Betriebsordnung (BOStrab). Angestrebt wird eine Zulassung nach BOStrab, die Zulassung obliegt dann dem TÜV. Für spätere Zulassungsfragen werden Landesdependancen des Eisenbahn-Bundesamts involviert. Das Reallabor zielt ausdrücklich darauf ab, den Regulierungsrahmen im Austausch mit den Zulassungs- und Genehmigungsbehörden weiterzuentwickeln.
Welchen Beitrag leistet das Reallabor für Gesellschaft und Nachhaltigkeit?
Mit der Reaktivierung stillgelegter Schienenstrecken – insbesondere im ländlichen Raum – und der Nutzung kleiner und flexibler Fahrzeuge mit neuartigen Antriebstechnologien kann ein bedeutender Beitrag zur Nachhaltigkeit geleistet werden. Das Konzept ist sowohl auf die bundesweit rund 400 Reaktivierungsstrecken im ländlichen Raum als auch auf nicht stillgelegte Strecken übertragbar. Da sich die Fahrzeuge auch für den Transport kleinvolumiger Fracht eignen, können sie in Form von Kombibusangebote die Verlagerung von Personen und Güterverkehr auf die Schiene und damit die Mobilitätswende unterstützen. Die Trams haben einen geringen Energiebedarf und werden durch regenerativ erzeugten Strom gespeist.
Weiterführende Informationen: https://reakt.sh/ | https://www.schiene-m-l.de/
Fassen wir zusammen
Reallabore sind themenoffen und adressieren gesellschaftliche Herausforderungen – sowohl über den Einsatz neuer Technologien als auch durch neue soziale Praktiken und Organisationsmodelle. Sie schaffen die Möglichkeit, neue Wege und Lösungen unter realen Bedingungen zu erproben, Probleme frühzeitig zu identifizieren und Herangehensweisen zu optimieren. Ein Reallabor wird häufig durch zahlreiche Akteure getragen: Unternehmen, Forschungseinrichtungen, Genehmigungs- oder Aufsichtsbehörden, Kommunalverwaltungen und so weiter. Auch über die unmittelbar verantwortlichen Akteure hinaus zeichnen sich Reallabore durch einen partizipativen Ansatz aus. Bürger:innen und Nutzer:innen werden informiert und können sich an Experimenten beteiligen. Dadurch schaffen Reallabore Akzeptanz für Neues, insbesondere in Bereichen, die im bestehenden Rechtsrahmen noch nicht oder noch nicht vollständig abgebildet sind. Im Idealfall wird ein Reallabor systematisch evaluiert und misst dem Wissenstransfer hohe Bedeutung bei. Die (Zwischen-)Ergebnisse werden in der Öffentlichkeit diskutiert, zum Beispiel in Dialogformaten, finden Eingang in Gesetzgebungsverfahren und vermitteln praxisnahe Erkenntnisse für weitere Reallabore.
Reallabore in der politischen Diskussion
In der politischen Diskussion haben Reallabore in den letzten Jahren deutlich an Relevanz gewonnen. Im Jahr 2019 hat das Bundeswirtschaftsministerium seine Reallabore-Strategie und ein Handbuch für Reallabore veröffentlicht. Die Strategie verfolgt drei Ziele:
- Mehr Spielräume für Innovationen schaffen: Einige Gesetze beinhalten bereits sogenannte Experimentierklauseln und vergleichbare Ausnahmeregelungen, die ein Ausprobieren in realer Umgebung erlauben, sofern eine Genehmigungsbehörde die Erlaubnis dazu erteilt. Oft ist jedoch unklar, wie diese Ausnahmen überhaupt genutzt werden können und was dabei zu beachten ist – und in vielen Bereichen gibt es noch keine entsprechenden Regelungen. Beides will das BMWK verbessern.
- Über Reallabore informieren und Reallabor-Akteur:innen miteinander vernetzen: Das BMWK hat das „Netzwerk Reallabore“ ins Leben gerufen, um Akteur:innen aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft, Wissenschaft und Verwaltung zusammenzubringen und über wichtige Entwicklungen im Zusammenhang mit Reallaboren zu informieren.
- Reallabore initiieren und begleiten: Mit dem bislang zweimal ausgerichteten „Innovationspreis Reallabore“ (2020 und 2022) zeichnet das BMWK besonders erfolgreiche Praxisbeispiele aus und nimmt Impulse für die Weiterentwicklung des regulatorischen Rahmens auf.
Auch auf EU-Ebene werden Reallabore und Experimentierklauseln als „Instrumente für einen innovationsfreundlichen, zukunftssicheren und resilienten Rechtsrahmen“ aufgefasst. In seinen Schlussfolgerungen hält der Rat der Europäischen Union unter anderem fest:
„Der Rat der Europäischen Union unterstreicht, dass Reallabore allen Unternehmen eine große Vielfalt an Möglichkeiten, vor allem für Innovation und Wachstum, bieten können; dies gilt insbesondere für KMU, einschließlich Kleinst- und Start‑up-Unternehmen, in den Sektoren Industrie und Dienstleistungen sowie in anderen Bereichen.“
Und nicht zuletzt hat die Bundesregierung mit der 2023 verabschiedeten Nationalen Strategie für Soziale Innovationen und Gemeinwohlorientierte Unternehmen das Konzept von Reallaboren noch einmal explizit in diesen Zusammenhang gestellt:
Wir sehen: Auch politische Entscheider:innen erkennen, welche Bedeutung Reallabore haben und welche Chancen sie Unternehmen bieten – vor allem auch solchen mit Fokus auf Soziale Innovationen. Eine vielversprechende Perspektive! Doch wie geht es weiter?
Ausblick: Reallabore-Gesetz und One-Stop-Shop
Bereits im September 2021 hat das BMWK ein Konzept für ein Reallabore-Gesetz veröffentlicht. Dieses Konzept sieht vier maßgebliche Inhalte für das Gesetz vor:
- Übergreifende Standards für Reallabore setzen
- Rechtliche Grundlagen für neue Reallabore in wichtigen Innovationsbereichen schaffen
- Einen Experimentierklausel-Check in der Gesetzgebung verankern
- Einen One-Stop-Shop Reallabore (OSS) als zentrale Anlaufstelle schaffen
Im Sommer 2023 hat das BMWK eine umfassende Stakeholder-Konsultation zum geplanten Reallabore-Gesetz durchgeführt. In dem Zuge wurden das Grünbuch Reallabore sowie ein Konzept für einen One-Stop-Shop Reallabore veröffentlicht. Letzterer soll als zentrale Anlaufstelle über Reallabore informieren, zur Vorbereitung und Durchführung von Reallaboren beraten, die Vernetzung weiter vorantreiben und den Wissenstransfer von der Reallabore-Praxis in die Gesetzgebung unterstützen. Der One-Stop-Shop soll ab Herbst 2024 aufgebaut werden und im Frühjahr 2025 in den Pilotbetrieb starten.