Maren Urner ist Neurowissenschaftlerin, Professorin für Nachhaltige Transformation an der FH Münster, Gründerin von Perspective Daily und Bestsellerautorin. Im Rahmen des SIGU-Forums haben wir mit ihr über Konstruktiven Journalismus, emotionale Reife in gesellschaftlichen Prozessen und ihr Buch „Radikal emotional” (2024) gesprochen.
2016 hast du Perspective Daily mitgegründet, das erste werbefreie Online-Magazin für Konstruktiven Journalismus. Was hat dich dazu angetrieben?
Maren Urner: Die tiefe Überzeugung, dass der Journalismus – damals wie heute – seiner gesellschaftlichen Verantwortung nicht gerecht wird. Ich habe damals in London promoviert und viele großartige Lösungsansätze gesehen. In den Medien habe ich aber sehr wenig davon gesehen. Es besteht ein sehr großer Missmatch zwischen dem, was Menschen und Soziale Innovationen alles Großartiges leisten, und was medial abgebildet wird. Gleichzeitig habe ich als Neurowissenschaftlerin verstanden, welche Auswirkungen das auf unser Gehirn hat: Wir können in eine erlernte Hilflosigkeit verfallen, weil wir das Gefühl haben, die Welt ist noch schlechter, als sie ohnehin schon ist. In dieser Zeit habe ich den Konstruktiven Journalismus entdeckt – und lieben gelernt. Mir wurde klar: Davon brauchen wir auch in Deutschland mehr. Vielleicht ein Magazin, das sagt: Wir berichten nur konstruktiv!
Was ist Konstruktiver Journalismus?
Konstruktiver Journalismus berichtet nicht nur über Probleme, sondern zeigt auch mögliche Lösungen auf. Er stellt zukunftsorientierte Fragen und bietet neue Perspektiven, bleibt dabei aber faktenbasiert und kritisch. Ziel ist es, eine informierte und handlungsfähige Gesellschaft zu stärken.
Warum braucht es einen konstruktiven Journalismus?
Erstens, weil Konstruktiver Journalismus der realistischere Journalismus ist. Er zeichnet ein vollständigeres Bild der Welt, indem er nicht nur Probleme beschreibt, sondern auch zeigt, wo bereits an Lösungen gearbeitet wird. Er macht sichtbar, wo Menschen und Organisationen handeln, umsetzen und Fragen stellen. Ohne diesen Blick bleiben die Rezipient:innen auf einem Auge blind. Zweitens eröffnet Konstruktiver Journalismus die Möglichkeit, der erlernten Hilflosigkeit zu entgehen – und stattdessen ihre Gegenspielerin zu stärken: die Selbstwirksamkeit. Das Gefühl, dass das eigene Handeln einen Unterschied macht – und dass nicht nur „die da oben“ über alles entscheiden.
Du erwähntest eben erlente Hilfslosigkeit. Wenn man das aus neurowissenschaftlicher Sicht betrachtet: Es gibt ja bereits sehr viele Lösungen – warum kommen wir trotzdem nicht ins Handeln?
Auf der einen Seite ist das kulturell bedingt, verbunden mit der Frage: Was ist normal? Handeln bedeutet, ein Stück weit aus der Reihe zu tanzen. Unser Gehirn sucht jedoch stets nach Sicherheit, um unser Überleben zu sichern. Diese biologischen Mechanismen können wir auf gesellschaftlicher und kultureller Ebene beobachten. Sicherheit erfahren wir als soziale Spezies vor allem durch andere Menschen und Gruppen. Die können sich beispielsweise über Religion, politische Zugehörigkeit und Geschlecht definieren. Wenn ich aus der Reihe tanze, riskiere ich, von „meiner“ Gruppe nicht mehr geachtet und damit nicht mehr beschützt zu werden. Das heißt: Selbst aktiv zu werden, ist zunächst immer ein Risiko.
Die Herausforderung liegt also darin, dieses Muster zu durchbrechen und zu sagen: Im Sinne der Gruppe wäre es eigentlich besser, so zu handeln. Stichwort Sozialunternehmertum. Gleichzeitig muss die Zugehörigkeit bestehen bleiben, um der eigenen Gruppe die Vorteile eines anderen Handelns zu vermitteln, ohne dafür ausgeschlossen oder abgelehnt zu werden.
Buch: „Radikal emotional”
In ihrem Debattenbuch fordert Maren Urner, unser rationales Politikverständnis zu überdenken: Angesichts fortschreitender Krisen müssen wir endlich aufhören, Verstand und Emotionen voneinander zu trennen. Nur, wenn wir beides zusammendenken und danach handeln, können wir konstruktiv Politik gestalten.
Das resultiert aus verschiedenen historischen Aspekten. Besonders im Zuge der Aufklärung wurde die Trennung von Gefühlen und Verstand „gefordert“. Diese vermeintliche Trennung gibt es aber nicht.
Spätestens seit der Begründung der Neurowissenschaften und der Psychologie wissen wir, dass sich Verstand und Emotionen oder Rationales und Emotionales nicht voneinander trennen lassen. Dieser falsche Anspruch hat sich verselbstständigt, gepaart mit den Vorstellungen, Emotionen seien immer auch eine „Schwäche“ und vor allem beim weiblichen Geschlecht zu finden. Mädchen dürfen schon mal Gefühle zeigen, Jungs dürfen das höchstens auf dem Fußballplatz. So können wir zahlreiche Gruppendynamiken beobachten, geprägt durch soziale Normen. Es geht dabei immer um Erzählungen und Geschichten, die sich über die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte sehr stark etabliert haben.
Wenn ich es jetzt mal einen großen Bogen schlagen darf: Aktuell zerstören wir unsere eigene Lebensgrundlage, weil wir nicht ehrlich darüber reden, wie zentral Emotionen bei all unseren Entscheidungen, unserem Verhalten, unserem Leben, bei jedem Atemzug sind. Und dass unsere Werte und Überzeugungen nichts anderes sind als eine Zusammensetzung aus verschiedenen Gefühlen und Emotionen. Jeder politische Prozess ist am Ende des Tages ein Aushandlungsprozess über unterschiedliche Werte und Überzeugungen – ergo Emotionen. Es ist fatal, dass wir jetzt auf dem besten Wege sind, unsere eigenen Lebensgrundlagen nachhaltig zu zerstören und gleichzeitig auf individueller Ebene ganz, ganz viele Menschen emotional unreif sind und schwer darunter leiden.
Diese Frage wird mir seit meinem letzten Buch häufig gestellt. Ich habe darauf keine konkreten Antworten, da mir dafür die Expertise in den verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen fehlt. Sprich, statt ein halbgares Konzept vorzustellen, lade ich dazu ein, dass wir gemeinsam erarbeiten, wie entsprechende Bausteine für die verschiedenen gesellschaftlichen Bereiche aussehen sollen. Wir brauchen da alle – all hands on deck in der Politik, Wirtschaft, Bildung und den Medien – und ich bin gern bereit, mit den Menschen in Austausch zu treten und die neurowissenschaftlichen Grund- und Eckdaten dazu beizusteuern.
Ein zentraler Punkt und zweite Zutat des von mir entwickelten dynamischen Denkens ist, das Lagerdenken aufzubrechen und Gruppen neu zu definieren. Gruppen geben wie gesagt erst einmal Sicherheit, das ist wichtig und richtig. Gruppen können aber auch gefährlich werden, wenn Gruppenzugehörigkeit zum Beispiel dazu führt, dass Menschen Kriege führen oder ganz allgemein gesprochen anderen Schaden zufügen.
Wie lässt sich das überwinden? Die Lösung ist ganz einfach – nicht unbedingt in der Umsetzung, aber im Verständnis. Sie steckt in der zweiten Zutat des dynamischen Denkens: Es geht darum, den kleinsten gemeinsamen Nenner zu finden. Was ist die Sache, die mich mit einer anderen Person oder Gruppe verbindet? Das können triviale Sachen sein, wie zum Beispiel der gleiche Musikgeschmack. Ein schönes Beispiel aus Australien: Auch dort wurde während der Corona-Pandemie Toilettenpapier gehortet. Der Premierminister appellierte an das (kollektive) Selbstverständnis: „We Aussies, we don’t do that.“ – Wir Australier machen das nicht. Er sprach damit den gemeinsamen Nenner an und das funktionierte. Es gibt immer einen kleinsten gemeinsamen Nenner. Wenn gar nichts mehr hilft, bleibt als kleinster gemeinsamer Nenner das Menschsein. Das ist natürlich etwas sehr Allgemeines und Großes – aber gerade darin kann eine starke Symbolkraft liegen.

Was würdest du denjenigen raten, die in der aktuellen gesellschaftlichen Stimmung die Hoffnung verlieren?
Ich kann nur sagen, dass es alternativlos ist, die Hoffnung nicht zu verlieren. Es zahlt sich sowohl auf
individueller als auch gesellschaftlicher Ebene aus, aktiv hoffend unterwegs zu sein. Mit „aktiv hoffend” meine ich die Überzeugung, dass das, was wir tun, zu einer positiven Veränderung in der Welt führen kann. Das Belohnungssystem im Hirn ist aktiv, wenn wir aktiv hoffend unterwegs sind. Wenn wir dieses Gefühl verlieren, dann verfallen wir in Passivität und alles wird nur noch schlimmer. Wir landen in einem Teufelskreis. Im Englischen gibt es für das Gegenteil ein schönes Wort: virtuous circle. Im Deutschen gibt es bezeichnenderweise kein Wort dafür. Wenn ich jetzt frei ein Wort erfinden müsste, würde ich es Engelskreislauf oder ein sich bestärkender positiver Kreislauf nennen. Es steht und fällt mit jeder einzelnen Überzeugung, die wir in unserem Gehirn haben.
Ich bin überzeugt: Wenn mehr Menschen laut – im Sinne von radikal emotional – und glaubwürdig vermitteln, warum sie das tun, was sie tun und warum es ihnen so viel bedeutet, hätten wir ein gelebtes Erfolgsrezept. Ob es nun um die Überwindung der Apartheid, der Gleichberechtigung im öffentlichen Raum, die Rosa Parks so kraftvoll verkörpert, oder den langen Kampf ums Frauenwahlrecht geht – all diese Bewegungen basieren letztlich auf der tiefen Überzeugung, dass das eigene Handeln bedeutsam ist.
Noch mehr Inspiration gibt es in unserer SIGU-Begleitpublikation.
Nächster Halt: Zukunftsfähige Gesellschaft




