Das anbrechende Jahr breitet sich vor uns aus wie eine unberührte Schneelandschaft. Keine festgetretenen Pfade, die uns in immergleiche Bahnen zwängen. Ein weißes Meer an Möglichkeiten. Festen Schrittes können wir unser Ziel ansteuern. Doch wohin wollen wir eigentlich?
Zukunftsbilder können uns helfen, diese Frage zu beantworten. Dabei sind realistische Zukunftsszenarien ebenso wichtig wie Utopien. Stellen wir uns konkrete Bilder möglicher Zukünfte vor, können wir anhand unserer eigenen Werte beurteilen, welche Szenarien wir als wünschenswert erachten. Utopien wiederum helfen uns, die Grenzen des Möglichen zu verschieben und kreative Kräfte zu entwickeln. Oder wie es die Zukunftsforscherin Dodo Vögler formuliert: „Indem wir uns auf das scheinbar Unmögliche zubewegen, schaffen wir die Chance, das gerade noch Erreichbare zu verwirklichen.“
Positive Zukunftsbilder können uns den nötigen Mut und Antrieb geben, auch beschwerliche Wege entschlossen gemeinsam zu gehen.
Utopie: Solarpunk
Die Sonne steht hoch über der offenen Weide. Schafe und Kühe dösen im Schatten der Solarpanele. Unweit der Weide gedeihen Gurken, Radieschen und Zucchinis Reihe um Reihe unter den schützenden Panel-Dächern. Eine Frau flitzt auf ihrem Hoverboard die Straße zwischen den Feldern entlang. Ihr Blick gleitet prüfend über die Tiere und Pflanzen. Kurz bleibt er an der leeren Tränke zu ihrer Linken hängen. Erst auf den zweiten Blick ist erkennbar, worauf sie zusteuert. Das runde Häuschen am Ende der Straße ist zwischen den üppigen Sträuchern und Bäumen kaum auszumachen. Seine Farben und Formen fügen sich so organisch in seine Umwelt ein, dass es wie aus der Erde erwachsen scheint. Die Frau hüpft behände von ihrem Board, schließt es an die Ladesäule an und biegt um die Hausecke. Mit geübten Handgriffen prüft sie den Wassertank des Regenwasserfilters. Zwei volle Eimer schöpft sie hinaus und hängt sie an eine Drohne, die sogleich Richtung Tränke fliegt.
Sie zückt ihr Handy. Soeben fiel ihr ein, dass sie später noch in die Stadt muss. Flugs reserviert sie einen Platz in dem vollelektrischen autonom fahrenden Rufbus. Die Stadt: dorthin, wo früher Lärm, Smog und Betonwüste waren, sind heute Farben und Leben zurückgekehrt. Sie ist damals geflüchtet vor dem tristen Stadtleben, hat sich einsam gefühlt zwischen all den Leuten, die mit gesenktem Kopf, den Blick starr auf ihr Handy gerichtet, durch die Straßen eilten. Doch heute ist das anders. Die Stadt pulsiert und strotzt vor Leben. Die Menschen haben sich aus dem festen Griff der Technik befreit, sie leben nun im Einklang mit ihrer technologischen und natürlichen Umwelt. Sie haben die Kraft ihrer Gemeinschaft wiederentdeckt und pflegen den fast verloren geglaubten Quell von Glück, Stabilität und Sicherheit nun hingebungsvoll.
Die soeben gezeichnete Zukunftsvision nennt sich Solarpunk. Die Zukunftsforscherin Dodo Vögler sieht darin ein gutes Beispiel für eine Utopie, aus der wir Kraft ziehen können: „Besonders gerne stelle ich mir jedoch eine positive, wünschenswerte Zukunft im Sinne einer Solarpunk-Vision vor – eine Welt, in der wir im Einklang mit den Ressourcen der Erde leben. Städte sind grüne Oasen, in denen Natur und urbanes Leben verschmelzen. Gesundheit, Bildung und soziale Teilhabe sind allen zugänglich. Wohlstand wird nicht durch Besitz, sondern durch soziale Verbundenheit und eine gesunde Umwelt definiert. In dieser Solarpunk-Zukunft arbeiten Menschen gemeinsam daran, nachhaltige Lebensweisen zu fördern und globale Herausforderungen wie den Klimawandel zu meistern. Technologie unterstützt uns dabei, ressourcenschonender und effizienter zu leben.“
Was ist Solarpunk?
„Solarpunk ist radikale Nachhaltigkeit: Hippie trifft Hipster, und Tech-Geeks crashen die Party.“ – Bianca Nogrady, ABC.net Australia.
Geboren als Sci-Fi-Genre inspiriert die Utopie mittlerweile unter anderem Kunst, Design, Aktivismus und Stadtplanung. Das ‚Solar‘ in Solarpunk steht stellvertretend für erneuerbare Energien aller Art und markiert das Zusammenleben im Einklang mit der Natur. Ökologische Nachhaltigkeit mithilfe von moderner Technologie, biologisch abbaubare Baumaterialien und grüne Stadtplanung stehen für dieses Bild. Das ‚Punk‘ verkörpert Rebellion, Kritik an bestehenden Strukturen und Selbstermächtigung. Bei Solarpunk geht es um den Widerstand gegen umweltschädliche Systeme und kapitalistische Strukturen und um den Versuch, die Transformation aktiv und innovativ mitzugestalten. Dabei stehen Gemeinschaft und Harmonie im Vordergrund. Die Sci-Fi-Utopie ist zugleich high- und low-tech, Technologie wird besonnen dort eingesetzt, wo sie gebraucht wird. Solarpunk ist Zukunftsvision, bewusste Provokation, Lebensphilosophie und eine Reihe konkreter Vorschläge in einem. Autarke Earthship-Häuser oder begrünte Hochhäuser wie das Bosco Verticale des mailändischen Architekten Stefano Boeri sind reale Beispiele der Solarpunk-Vision.
Solarpunk ist ein Gegenentwurf zu Cyber- und Steampunk. Vom dystopischen, technologiezentrierten Cyberpunk unterscheidet sich Solarpunk durch seinen positiven, naturnahen Charakter. Und im Unterschied zu Steampunk, das sein positives Zukunftsbild aus einer alternativen Vergangenheit zieht, ist die Solarpunk-Zukunft möglich.
Zukunftsforschung: Foresight
Auch aus der Wissenschaft gibt es Ansätze, Bilder möglicher Zukünfte zu konkretisieren. Der sogenannte Foresight-Ansatz ist eine strategische Vorausschau. Abgeleitet von Vergangenheit und Gegenwart werden mögliche Entwicklungen in der Zukunft aufgezeigt. So können sich Entscheidungsträger:innen und Bürger:innen mit den mehr und weniger wünschenswerten Szenarien auseinandersetzen und ihre Entscheidungen und Handlungen konkret darauf ausrichten, was sie erreichen wollen.
Beispiel 1: CIMULACT
Ein Beispiel für einen solchen Prozess ist das Projekt CIMULACT. 1.000 Bürger:innen aus 30 europäischen Ländern wurden nach ihrer Vision für 2050 gefragt. Im Anschluss haben die Teilnehmenden aus ihren individuellen Zukunftswünschen sechs geteilte Visionen pro Land entwickelt. Dazu zählen beispielsweise Post-Wachstums-Visionen ebenso wie eine einheitliche, qualitativ hochwertige Gesundheitsversorgung und neue Wohn-, Bildungs- und Mobilitätskonzepte. Das Projekt hat gezeigt: Sich gemeinsam Zukünfte vorzustellen kann Innovator:innen hervorbringen und Ergebnisse produzieren, die politische Agenden informieren können.
Beispiel 2: VORAUS:schau
Direkt aus der Politik kommt auch ein anderes Foresight-Projekt: VORAUS:schau des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF). Expert:innen haben mit wissenschaftlichen Methoden Zukunftsthemen identifiziert und mögliche Szenarien daraus entwickelt. Die Kurzbeschreibungen der Szenarien, die Themen von Superkeimen über erneuerbare Energien und Datenspeicherung bis hin zur klimabedingten Migration abdecken, sind hier zugänglich.
Zukunft zum Selbermachen
Während geteilte Zukunftsvisionen uns als Gesellschaft helfen, unseren Kompass einzunorden, können sie uns auch im Kleineren dabei unterstützen, unsere individuellen Projekte voranzutreiben. Denn Zukunftswünsche schlummern schon in uns, wir müssen sie uns nur bewusst machen.
Ihr wollt euch selbst auf eine Zukunftsreise begeben? Einen spielerischen Ansatz bietet beispielsweise Cards of Hope. Das Online-Kartendeck fordert die Teilnehmer:innen heraus, innerhalb von 3 Minuten eine konkrete Zukunftsvision zu entwickeln und die Mitspielenden davon zu überzeugen. Jede Vision besteht aus einem Thema (angelehnt an die SDGs), einer Perspektive sowie einem Zeitpunkt und einer konkreten Situation. Was würde zum Beispiel ein Cyborg in 30 Jahren auf einem ersten Date über die Kultur erzählen? Oder was würde eine Pflanze bei einem Arztbesuch in 5 Jahren über Religion berichten?
Oder ihr widmet euch einem Gedankenspiel, mit denen ihr eine Vision für euer Projekt entwickeln könnt. Hier sind zwei Ideen:
- Die Zeitung von morgen: Denkt euch ein beliebiges Datum aus (das kann beispielsweise der Tag nach dem Ende eurer aktuellen Förderperiode sein oder heute in 5 Jahren, …) und überlegt euch: was wäre der ideale Artikel, der über euer Projekt erscheinen könnte. Konkretisiert nun: Medium, Überschrift, Titelbild, Artikelinhalt, Zitat.
- Laudatio: Stellt euch vor, ihr würdet in der Zukunft X mit eurem Projekt bei einem für euch wichtigen Preis ausgezeichnet werden. Was würde der/die Laudator:in über euer Projekt sagen? Welche wichtigen Meilensteine auf dem Weg zum Erfolg habt ihr genommen? Welche Hürden habt ihr mühevoll überwunden? Was hat sich wie ein roter Faden durch eure Geschichte gezogen?
(Umgekehrt könnt ihr auch Nachrufe auf euer Projekt schreiben, die euch deutlich machen, was die Stolperfallen auf eurem zukünftigen Weg sein könnten.)
Ein kleiner Fun Fact: Wir haben das Gedankenspiel 1 bei unserem letzten Strategietreffen aufgenommen und unter anderem kam dabei ein Zeitungsartikel über das neu gegründete ‘Ministerium für Soziale Innovationen’ heraus. Bleibt gespannt! 😉
Wer in Berlin ist, sollte einen Besuch im Futurium nicht verpassen. Die Ausstellung beschäftigt sich mit unseren gesellschaftlichen Zukünften. Und falls ihr nicht nur gucken, sondern mitmachen wollt: Das Futurium bietet auch eine Workshopreihe „Zukünfte gestalten lernen“ an, die einmal im Monat im Rahmen des Open Lab-Abends stattfindet. In insgesamt vier Modulen lernt ihr fundierte Methoden der Zukunftsgestaltung kennen, die ihr zu eurem individuellen Zukunfts-Methodenkoffer zusammenstellen könnt. Hier geht’s zur Veranstaltung.
Weitere Inspiration zum Thema Zukunft findet ihr in unserem Magazin „Per Impact in die Zukunft“. Mit dabei: Acker e.V., die ihre Vision #2030JedesKind teilen. Für Acker e.V. ist zum Beispiel die Vision, dass 2030 jedes Kind in Deutschland erleben kann, woher das Essen kommt, der Motor all ihrer Initiativen und Projekte.
Sei es die Zukunft im Kleinen oder im Großen, die nahe oder die ferne, die realistische oder die utopische: erlaubt euch, auf Visionswanderung zu gehen. Denn:
„Die Zukunft, die wir wollen, muss erfunden werden. Sonst bekommen wir eine, die wir nicht wollen.“ – Joseph Beuys, Künstler und Kunsttheoretiker.