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Schule neu denken

27. März 2025
Margret Rasfeld setzt sich als Bildungsinnovatorin für eine gesellschaftliche Transformation des Bildungssektors ein. Nachdem sie erst als Lehrerin tätig war, hat sie später innovative Schulprojekte geleitet und ist international als Beraterin und Referentin gefragt. Mit ihrer Arbeit inspiriert sie zu neuen Ansätzen in der Bildung und erreicht ein breites Publikum. Rasfelds Leitung der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ) sowie die Projekte “Schule im Aufbruch” und “FREI DAY” erfahren internationale Anerkennung.

Die Welt entwickelt sich rasant. Krisenmeldungen überschlagen sich. Welche Qualitäten und Fähigkeiten muss die Schule angesichts der Herausforderungen unserer Zeit vermitteln? Welche Art der Bildung hilft jungen Menschen, Handlungsfähigkeit zu kultivieren? Im Gespräch mit der renommierten Bildungsreformerin Margret Rasfeld möchten wir herausfinden, welche Kriterien eine gelingende Bildung ausmachen, wie innovative Ideen in der Praxis umgesetzt werden können und welche Chancen und Hoffnungen sich dadurch für unsere Zukunft ergeben.

Hinweis: Das Interview liegt hier sowohl im Text- als auch im Videoformat vor.

Frau Rasfeld, Sie wurden 1951 geboren und haben fast 50 Jahre Erfahrung im deutschen Schulsystem. Angefangen haben Sie 1976 als Biologie- und Chemielehrerin. Wie waren Ihre ersten Eindrücke damals vom deutschen Schulsystem und was wollten Sie anders machen?

Kinder sind wachsam und achtsam, haben ein feines Gespür, stellen mutig Fragen, wollen mitgestalten. Das sind meine Erfahrungen als Lehrerin von Beginn an. 1977 an einem Gymnasium als junge Lehrerin durfte ich vielfältig erfahren, dass Kinder und Jugendliche sich für ernsthafte Themen interessieren und gestalten wollen. Kinder haben auch ein starkes Gespür für Gerechtigkeit oder Ungerechtigkeit. Kinder möchten ihre Ideen und Meinungen einbringen. Ein Beispiel:  Klasse fünf – zwei Mädchen kommen ganz aufgeregt in den Unterricht: „Wir müssen sofort die Bäume retten!“ Worum ging es? In der Straße, in der sie wohnten, waren Bäume einbetoniert, der Asphalt brach auf, und das war für sie das Zeichen zum Handeln. Es geht den Bäumen nicht gut. Klar müssen wir die Bäume retten. Die Klasse war sich einig. Auch für mich war klar, dieses Anliegen der Kinder war wichtiger als der Lehrplan. Darin kamen Bäume nämlich erst ein Jahr später vor. Was tun? Die Kinder luden sich den Leiter vom Grünflächenamt ein. Nach langer Diskussion waren sie enttäuscht. Denn argumentiert wurde, das ginge nicht, es sei kein Geld eingestellt und die Maßnahme sei auch sowieso nicht vorgesehen. Die Kinder waren aber auch empört. Und ich habe nur gesagt: und nun? Und dann legten sie los. Jetzt holen wir die Presse, jetzt gehen wir an die Öffentlichkeit. Jetzt bleiben wir weiter dran. Nach einem wilden Jahr mit tatsächlich mehrfacher Presse und einer Straßendemo konnten die Kinder auf ein stolzes Ergebnis blicken. In der Straße waren Baumbeete angelegt, um die sie sich zunächst selbst kümmerten, bis sie dann Anwohner:innen gefunden hatten. Und ich habe viel gelernt von den Kindern. Wenn wir an sie glauben, ihnen vertrauen und Raum öffnen, dann legen sie los, beharrlich, selbstbewusst, überzeugt von der Sache, im Team. Eine wichtige Erfahrung für mich, die sich noch vielfach wiederholen sollte. Ich habe fast nur projektbasiert und lebensnah gearbeitet und war damit jedoch eine Ausnahme in der sonst auf Frontalunterricht ausgerichteten Schule. So beschloss ich, Schulleiterin zu werden, um mehr Gestaltungsmöglichkeiten zu haben.

1997 gingen Sie an die Gesamtschule in Essen-Holsterhausen, die vielfach ausgezeichnet wurde im Bereich nachhaltige Entwicklung. Auf Anfrage einer Elterninitiative übernahmen Sie 2007 die Leitung der Evangelischen Schule Berlin Zentrum (ESBZ), die seitdem als Leuchtturmprojekt innovativer Bildung in Deutschland gilt. Wie ist es Ihnen damals gelungen, ein völlig neues Bildungskonzept zu begründen?

Wir hatten einen Leitstern, ein Ethos, das uns getragen hat. Das war die AGENDA 21, das Abschlussdokument der Rio Konferenz: „Was zu tun ist im 21. Jahrhundert“. 1997, im Gründungsjahr der Gesamtschule Holsterhausen, hat die UNESCO, basierend auf der Agenda 21, mit dem UNESCO-Bericht zur Bildung für das 21. Jahrhundert zum Paradigmenwechsel in der Bildung aufgerufen. Für uns als Schule waren das Ermutigung und Anspruch zugleich. Wenn es am Anfang dieses neuen Jahrtausends um existenzielle Fragen, um planetare Grenzen und das Überleben der Menschheit geht, dann müssen wir in der Schule ebenfalls die großen Fragen in den Blick nehmen. Für mich war das Leitbild der nachhaltigen Entwicklung handlungsleitend. Und so wie mir ging es auch meinen Kolleg:innen, den Kindern, den Eltern. Es geht um Verständigung und Bewusstsein für eine globale Verantwortung. Es geht darum, das Zusammenleben zu lernen in der Einen Welt, und darum, dass wir alle Verantwortung übernehmen. Wir starteten mit zehn Lehrer:innen, 142 Kindern und 142 Familien. Verantwortung für Kinder – Verantwortung für die Erde wurde unser Leitbild, fußend auf den vier Säulen der UNESCO: Lernen, Wissen zu erwerben; lernen, zusammenzuleben; lernen, zu handeln; lernen, zu sein.

Es geht um Verständigung und Bewusstsein für eine globale Verantwortung. Es geht darum, das Zusammenleben zu lernen in der Einen Welt, und darum, dass wir alle Verantwortung übernehmen.

An der AGENDA Schule Essen Holsterhausen (ab 1996) wie später auch für die Evangelische Schule Berlin Zentrum, die ich von 2007-2016 leitete haben Schüler:innen kreative Ideen entwickelt, sich eingesetzt und Spuren hinterlassen. Neue Lernformate wurden partizipativ entwickelt und die Kinder waren in ihren Forderungen dabei oft mutiger als die Erwachsenen: der wöchentliche Projekttag zum Handeln in der Kommune, die Schulfächer „Verantwortung“ und „Herausforderung“, die inzwischen hunderte Schulen inspiriert haben, die wöchentliche Schulversammlung, das Einladen von Menschen mit Botschaften, die ökologische klimagerechte Gestaltung von Gebäuden, Beschaffung und Campus, heute Whole School Approach genannt. So durfte ich früh und anhaltend erleben, welcher Herz-Mut, Gerechtigkeitssinn und Gestaltungswille in Kindern steckt und mit welcher Ernsthaftigkeit sie Verantwortung übernehmen, mit welcher Leidenschaft und Begeisterung sie sich einbringen, wenn wir ihnen Räume öffnen und an sie glauben. Alle diese Erfahrungen sind eingeflossen in die Gründung der Organisation „Schule im Aufbruch“ und das Lernformat FREI DAY, das aus diesen eindrücklichen Erfahrungen erwachsen ist. Die Zusammenarbeit mit Eltern war uns von Beginn an wichtig. Wie die Kinder wollen auch Eltern einbezogen sein und ihre Perspektiven und Schätze einbringen. Die Eltern brachten sich in beiden Schulen auf vielfältige Weise ein und wurden so zu Botschafter:innen einer Lernkultur der Potenzialentfaltung, ausgerichtet an der AGENDA 21, die 2015 in die 17 Nachhaltigkeitsziele überging.

Wären Sie Kultusministerin, entlang welcher Leitideen würden Sie dann Ihre Antrittsrede halten? Was müsste sich Ihrer Meinung nach grundsätzlich an unserem aktuellen Bildungssystem verändern?

1. Vom Defizitblick zum Potenzialblick
2. Vom Lernen im Gleichschritt zum personalisierten Lernen und Lerncommunities
3. Vom Fächerkorsett zum Lernen in Zusammenhängen
4. Von Abschlussprüfungen zu Anschlusszertifikaten
5. Vom Einzelkämpfern zu Teams
6. Von der Sitz- und Schreibschule zu Werkstätten für weltverantwortliches Handeln

Schule soll Kindern die Begeisterung am Lernen erhalten und ein sicherer Ort sein, wo Verbundenheit, Gemeinschaft, achtsame Kommunikation und das Schätzen von kultureller Verschiedenheit gelebt werden. Was Demokratie bedeutet, lernen junge Menschen durch Mitsprache und Selbstwirksamkeitserfahrungen im Schulalltag. Sinn, Leidenschaft und die 17 Nachhaltigkeitsziele sind zentral. Junge Menschen möchten an Zukunftslösungen aktiv mitentwickeln. Dazu brauchen sie Future Skills und Aktions- und Freiräume für ihr Handeln, wie den FREI DAY.

Ich würde die Aus- und Fortbildung neu aufstellen. Starke Kinder brauchen starke Pädagog:innen. Das bedeutet: Raum für biografische Reflexion; Raum für inneren Wandel, Achtsamkeit, Empathie, Selbstfürsorge; die Kraft der Natur und Künste erfahren; neue Lernsettings erproben und reflektieren und dabei neue Rollen und Haltung einüben und reflektieren; bewertungsfreie Erprobungsräume, Lernreisen.

Was sehen Sie als wichtigen Hebel in Bezug auf die Transformation im Bildungssektor?

Damit der Paradigmenwechsel in Breite umgesetzt werden kann, braucht es einen Haltungswandel, neue Lern- und Prüfungsformate, Projektpartner und Transformationsbegleitung für Schulen. Es gilt von der Konkurrenz in die Kraft des „Wir“ zu kommen. Treiber wäre ein großer Transformationsfonds als gemeinsame Initiative des Bundes, der Länder sowie von Stiftungen und der Wirtschaft, um die bereits heute wirksamen zivilgesellschaftlichen Akteure finanziell so auszustatten, dass sie sich ganz auf ihre Unterstützungsarbeit mit den Schulen konzentrieren und ohne Konkurrenz um Förderer kollaborieren können, begleitet von einer breiten „Good News“-Medienberichterstattung.

2012 haben Sie die Initiative „Schule im Aufbruch” mitbegründet und 2019 haben sie den FREI DAY erfunden. Beide bekommen auch international viel Aufmerksamkeit. Was macht diese Ansätze so besonders?

Bildung für nachhaltige Entwicklung ist mit dem Programm BNE 2030 und dem Nationalen Aktionsplan BNE bildungspolitisch beschlossen und Auftrag aller Schulen. Mit ihr verbunden ist die Transformation der Schule zum Lernort für Innovation und Entrepreneurship, für Kreation und Kunst. Für die Umsetzung braucht es Mut, einen Haltungswandel und geeignete Lernformate. „Schule im Aufbruch“ hat, ausgehend von der Lernkultur der ESBZ, neue Lernformate verbreitet und Schulen dazu ermutigt, in eine Lernkultur der Potenzialentfaltung zu gehen. „Schule im Aufbruch“ bildet auch Transformationsbegleiter:innen aus, die Schulen beim Wandel unterstützen und sie zu einer agilen Kultur befähigen.

Die Zukunft gehört der kreativen Kraft. Kreatives Lernen heißt lernen, zu sein, heißt lernen, sich auszudrücken, heißt lernen, wirksam zu sein, heißt lernen, mit ständiger Veränderung umzugehen. Und das alles in solidarischer Gemeinschaft. Gestaltungskompetenz und Selbstwirksamkeit sind die Schlüssel. Große Visionen brauchen erste machbare Schritte in die Breite. Der FREI DAY ist so ein Schritt, eine Möglichkeit zum Einstieg in BNE. Der FREI DAY bedeutet: mindestens vier Stunden sind jede Woche für den Lernbereich Zukunft strukturell verankert. Die Themen kommen von den Kindern und Jugendlichen und orientieren sich an ihrer Lebenswelt, ihren Fragen und Sorgen, ihren Visionen und Wünschen. Die 17 Nachhaltigkeitsziele bieten den weiten Rahmen. Die Schüler:innen eignen sich zu ihrem Thema Wissen an, erkunden Herausforderungen dazu in ihrem Umfeld, entwickeln dafür Lösungen und setzen diese um. Sie arbeiten selbstorganisiert, interdisziplinär und vernetzen sich mit Expert/innen. Sie setzen ihre Projekte vor Ort um, erwerben dabei Zukunftskompetenzen und übernehmen Verantwortung für sich, für andere und den Planeten. Am FREI DAY haben die Erwachsenen die Rolle von Lernprozesscoaches. Sie begleiten, aktivieren und unterstützen aus dem Potenzialblick heraus. Das bedeutet, dass die Erwachsenen in neue Rollen gehen und Freiheit lernen. Es geht um einen Paradigmenwechsel vom Geist der Vorgaben zum Loslassen, sich einlassen, um Beziehungsqualität, um einen Haltungswandel von gewohnter Ergebnisorientierung hin zu Prozessorientierung.

Die Zukunft gehört der kreativen Kraft. Kreatives Lernen heißt lernen, zu sein, heißt lernen, sich auszudrücken, heißt lernen, wirksam zu sein, heißt lernen, mit ständiger Veränderung umzugehen. Und das alles in solidarischer Gemeinschaft.

Der FREI DAY hat eine Tages- und Jahresstruktur, die erworbenen Kompetenzen werden regelmäßig reflektiert und dokumentiert. Es gibt öffentliche Präsentationen und ein FREI DAY-Fest. Agiles Lernen ist Kern des FREI DAY. Schüler können mit agilen Entwicklungsmethoden wie Design Thinking oder Scrum arbeiten und Makerspaces nutzen. Das alles mit dem Ziel, dass unsere Kinder nicht Konsumenten, sondern digitale Gestalter:innen der Welt von morgen werden. So ist der FREI DAY auch für die Zukunft der Arbeit eine gute Vorbereitung. Unsere Gesellschaft braucht mehr Entrepreneurship. Entrepreneurship ist eine Haltung, geprägt von Neugierde sowie schöpferischen und unternehmerischem Geist. Soziales und ökologisches Entrepreneurship sind wichtig, um Lösungen für die großen Herausforderungen, in denen wir stehen, zu finden. Der FREI DAY hat Entrepreneurship-Geist als Wesenskern. Unternimm etwas! Sei leidenschaftlich! Werde aktiv! Du zählst, auf dich kommt es an. Du kannst – gemeinsam mit anderen – Changemaker sein!

Schülerin, 16 Jahre

Sie sprechen viel über das Fühlen. Welche neuen Wege würden Sie gerne erproben, um Schülerinnen und Schüler, aber auch Lehrkräfte darin zu unterstützen, die Verbindung zu sich selbst mehr zu kultivieren?

Im Bildungssystem erfahren viele junge Menschen Fremdbestimmung, Druck, Konkurrenz und Angst. Beziehung ist die Antwort auf die Krisen der Zeit. Viele Schüler:innen sprechen von ihrem Schmerz, von Erschöpfung und von diesen Fassaden. Das Unterdrücken von emotionalen Botschaften führt dazu, dass Menschen den Kontakt zu sich selbst verlieren und in den Funktionsmodus gehen. Wer Emotionen unterdrückt, entfremdet sich selbst. Entfremdung einzuüben ist fatal, gilt es doch sie zu überwinden. Denn Krisen überall machen deutlich, dass der Wachstums- und Optimierungswahn uns in existenzielle Erschöpfungszustände gebracht hat. Die ökologische Krise, die soziale Krise, die Sinnkrise sind Ausdruck zunehmender Entfremdung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Mitmensch sowie im Selbst. Eine gesellschaftliche Transformation, ein grundlegender Wandel in Einstellungen und Haltungen zu Nachhaltigkeit und Beziehungsfähigkeit auf allen Ebenen ist dringliche Notwendigkeit.

Wenn wir auf diesem Planeten überleben wollen, müssen wir lernen zusammen zu leben: miteinander, verbunden und verbindend, achtsam und in Fürsorge. Eine nachhaltige Zukunft braucht Wir-Qualitäten: Kollaboration, Arbeiten an komplexen Aufgaben im Team, das Achten und Schätzen von Diversity, Vernetzungs- und Beziehungsfähigkeit. Und das Überwinden der Entfremdung.

Es braucht einen Paradigmenwechsel hin zu Care-Systemen und einer Haltung, die achtsam, mitfühlend, lebens- und liebesfördernd ist. Und da geht es um Herzensbildung und ums Fühlen. Es gilt, jetzt für grundlegende systemische Veränderungen im Bildungssystem einzustehen und mutig zu handeln. Ich bin überzeugt davon, dass wir uns mit dem Schmerz der Kinder verbinden müssen, wenn wir das Schulsystem radikal (an die Wurzel) gehend verändern wollen, dass wir den Kindern zuhören und uns mit ihnen verbinden müssen. Das erfordert den Mut, uns darauf einzulassen, mit unserem eigenen Schmerz in Berührung zu kommen.